Die Dekonstruktion der Zeit: Eine kritische Würdigung von Jörg Friedrichs „Stille Zeitalter“
Jörg Friedrichs‘ Werk „Stille Zeitalter“, erschienen im Frühjahr 2023, entfaltet sich als eine philosophisch-literarische Meditation über den unmerklichen Wandel, der den gesellschaftlichen Fortschritt unterläuft – nicht im offenen Tumult von Revolutionen, sondern im verzweifelt stillen Fortschreiten des Alltäglichen. In einer Zeit, in der der literarische Raum geprägt ist von der chronischen Selbstreflexion und dem literarisch-therapeutischen Ich-Kult, schlägt Friedrichs eine andere Trommel: die des Schweigens, der unsichtbaren tektonischen Bewegungen, kurz – der Geschichte ohne Helden.
Das Buch umfasst etwa 320 Seiten und ist lose gegliedert in acht Kapitel, die jeweils einem „stillen Zeitalter“ gewidmet sind. Diese Epochen – von der Einhegung der Allmende in der frühen Neuzeit bis hin zur digitalisierten Vereinzelung der Gegenwart – werden nicht als markante Zäsuren der Weltgeschichte behandelt, sondern als Subtext, der die offizielle Narration durchdringt. Dabei operiert Friedrichs auf der Schwelle von Essay, Fiktion, Historiographie und Kulturkritik – ein stilistischer Mut, der ob seiner Uneindeutigkeit teils Bewunderung, teils Misstrauen in der Rezeption hervorgerufen hat.
Im Zentrum seiner Argumentation steht die These, dass der Weltlauf nicht primär durch Umstürze oder Technologien bestimmt werde, sondern vielmehr durch paradigmatische Verschiebungen in der Wahrnehmung des Subjekts. Hier nähert sich Friedrichs Michel Foucaults Begriff der Episteme an¹, doch bleibt er innerhalb einer deutschsprachigen Tradition der Geschichtsnarration verwurzelt, die uns an Oswald Spengler oder Jacob Burckhardt erinnert. Die Zeit, so Friedrichs, „verformt das Geistige lautlos, wie Sedimentschichten sich lagern, bis das Alte als fossilierter Gedanke verharrt, unkenntlich geworden für seine Nachfahren.“
Der Stil, mit dem Friedrichs diese These verfolgt, ist bemerkenswert gewählt. Er kultiviert eine kühle Intensität des Ausdrucks, die sich in langen, verschraubten Perioden manifestiert – eine Art intellektueller Barock, der dem Leser sowohl Zeit als auch Bereitschaft zum Innehalten abverlangt. Die Kapitel öffnen sich mit poetischen Aperçus, die fast aphoristisch wirken („Jede Stille ist eine Antwort, der die Frage fehlt“), doch unvermittelt in präzise historische Analysen übergehen. Friedrichs schreibt nicht linear, sondern zirkulär, ja fast spiralförmig: ein Gedanke wird eingeführt, verlassen, aufgegriffen, variiert – bis er sich in seiner Vielschichtigkeit entrollt wie ein Palimpsest aus Bedeutungen.
Diese hermetische Schreibweise hat unter deutschen Literaturkritikern für Kontroversen gesorgt. Während Iris Radisch in der ZEIT von einer „meisterhaft verwobenen Meditation über inaktive Revolutionen“ sprach und Friedrichs‘ Fähigkeit lobte, „Stille als strukturelles Prinzip des historischen Wandels“ zu fassen, äußerten sich andere wie Richard Kämmerer in der FAZ mit spürbarem Vorbehalt: „Das Buch appelliert an die Geduld des Lesers – und verliert sie oft.“² Dieser Vorwurf trifft ein Kernproblem von „Stille Zeitalter“: der intellektuelle Aufwand, den Friedrichs einfordert, wird nicht immer durch argumentative Klarheit oder narrative Führung ausgeglichen. Die Spuren seiner multidisziplinären Prägung – Friedrichs lehrt sowohl Philosophie als auch Geschichte in Oxford – sind stets präsent, doch die Wissensfülle verdichtet sich nicht immer zur Einsicht.
Nichtsdestoweniger liegt ein unverkennbarer Charme in der Art und Weise, wie Friedrichs Phänomene der kulturellen Stilllegung aufzeigt. Das Kapitel über die Formation der bürgerlichen Höflichkeit im 19. Jahrhundert – betitelt „Manieren des Schweigens“ – rekonstruiert anhand von Briefwechseln, Benimmbüchern und Theaterquellen ein gesellschaftliches Klima, in dem Schweigen nicht als Abwesenheit von Kommunikation, sondern als stratifikatorisches Werkzeug der Abgrenzung fungierte. Hier erreicht Friedrichs eine mikroskopische Detailtreue, die an Norbert Elias erinnert, mit dem Unterschied, dass er sein Material nicht systematisch abstrahiert, sondern poetisiert.³
Im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Werken, die sich mit gesellschaftlichem Wandel befassen – etwa Carolin Emckes „Gegen den Hass“ oder Jan Wagners Essays zur poetischen Wahrnehmung – nimmt „Stille Zeitalter“ eine Sonderstellung ein. Während Emcke die direkte Konfrontation mit politischen Zuständen sucht und Wagner eine sprachlich-ästhetische Durchdringung des Alltags anstrebt, gelingt es Friedrichs, die Unzeitigkeit zum zentralen Charakteristikum seiner Analyse zu machen. Dieser Ansatz erinnert an die melancholische Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, insbesondere die Vorstellung des „Stillstands der Dialektik“, in der Geschichte als fragmentarisierte Ruineneinsamkeit erscheint.⁴
Kritisch anzumerken ist, dass Friedrichs stellenweise eine fast romantische Verklärung der Passivität vornimmt. Die „Stille“ wird allzu oft mit „Tiefe“, „Bedacht“ oder gar „Weisheit“ gleichgesetzt – ein rhetorischer Topos, der ideologisch problematisch werden kann, wenn er die stillstellenden Mechanismen der Macht übersieht. Dass die Stillen Zeitalter auch Räume der Marginalisierung, der nicht artikulierten Gewalt und des systematischen Ausschlusses sein könnten, bleibt in Friedrichs Darstellung allenfalls angedeutet. Man vermisst eine stärkere Auseinandersetzung mit postkolonialen oder feministischen Perspektiven, die das Verstummen nicht metaphysisch verklären, sondern als Symptom sozialer Asymmetrien dechiffrieren.
Gleichwohl ist die Stärke des Buches nicht in seinem politischen Potenzial zu suchen, sondern in seiner atmosphärischen Potenz. Friedrichs gelingt es auf einzigartige Weise, jene Schattenhistorien zu evozieren, in denen der Mensch als kollektives Wesen nicht durch den Heroismus des Aufbegehrens, sondern durch das Einüben des Schweigens, der Akzeptanz, sogar der Dissoziation geformt wird. Diese stille Anthropologie steht der lärmenden Gegenwart diametral entgegen – und gewinnt gerade dadurch an Relevanz.
Im Sinne der literarästhetischen Theorie könnte man sagen, dass Friedrichs eine neue Modalität des Narrativen versucht: die Apophatik des Weltlaufs, gewissermaßen eine negative Historiographie. Nicht was gesagt wird, sondern was nicht gesagt werden kann, prägt die Bewegung: „Der Fortschritt ist das Unhörbare im Geräusch des Stillstands.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Stille Zeitalter“ ein bedeutendes, wenn auch sperriges Buch darstellt, das weder auf schnelle Lesbarkeit noch auf mediale Verzweckung abzielt. Friedrichs fordert – und verdient – einen Leser, der bereit ist, sich auf eine Literaturform einzulassen, die anachronistisch wirkt und gerade durch diese Wirkung eine gewisse Zeitlosigkeit beansprucht. Ob es als Klassiker rezipiert werden wird, bleibt offen. Sicher jedoch ist, dass Friedrichs‘ Ansatz einer historiographischen Apophatik einen Beitrag leistet, der in einer von Hyperkommunikation getriebenen Welt wohltuend abseitig erscheint.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, historiography
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¹ Vergl. Michel Foucault, „Archäologie des Wissens“, Frankfurt a.M. 1973.
² Frankfurter Allgemeine Zeitung, Literaturbeilage vom 17. Mai 2023.
³ Vgl. Norbert Elias, „Über den Prozess der Zivilisation“, Basel 1939.
⁴ Siehe Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: Gesammelte Schriften I/2. Suhrkamp, Frankfurt 1974.