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Die dialektische Schattenkammer: Eine Analyse von Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter”

Posted on Juni 29, 2025 by admin

Die dialektische Schattenkammer: Eine Analyse von Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter”

Daniela Dröscher, eine Stimme moderner Weiblichkeit in der deutschsprachigen Literatur, hat mit ihrem 2022 erschienenen Roman „Lügen über meine Mutter“ ein Werk vorgelegt, das sowohl autobiographisch zu sein beansprucht als auch die gesellschaftlichen Mechanismen der Unwahrheit auf dem familiären Altar seziert. Auf faszinierende Weise verwandelt sie den Bericht über eine Kindheit in den 1980er Jahren in eine philosophisch-gesellschaftskritische Exegese gewöhnlicher Unterdrückung: die der Frau durch den Mann, die der Wahrheit durch das Narrativ, die des Kindes durch das System.

Der Roman kreist, dem Titel gemäß, um „Lügen“, die über die titelgebende Mutterfigur verbreitet werden – ein von körperlichem Makel (Übergewicht) gezeichneter Charakter, der nie wirklich selbst zu Wort kommt, sondern stets durch die Filter des Umfelds, der Gesellschaft und der Erzählerin wahrgenommen wird. Dieser Topos der multiplen Vermittlungen ist keineswegs literarischer Zufall, sondern bewusste Struktur: Dröscher dekonstruiert die Erinnerung als ein Phantasma der Bedürftigkeit, durchsetzt mit kollektiven Erzählungen als Schutzmechanismen gegen soziale Ausgrenzung.

Zunächst verführt das Buch mit einer chronologisch anmutenden Struktur: Kindheitsstationen der Erzählerin, das Leben in einer Reihenhaussiedlung, die Tyrannei des Vaters, dessen ins Monomanische ausufernde Besessenheit vom Körpergewicht der Mutter. Doch diese vermeintlich lineare Struktur bricht die Autorin bald auf: Essayistische Einsprengsel, Reflexionen über Sprache, Körperpolitik und patriarchale Dominanz durchziehen den Text wie dunkle Adern in weißem Marmor. Immer wieder adressiert sie den Lesenden direkt, durchbricht die vierte Wand der Fiktion, um die Täuschung als konstitutives Element sowohl des Erinnerns als auch des Erzählens im Allgemeinen zu demaskieren.

Der Stil Dröschers ist durchdrungen von einem elegisch-prophetischen Ton, der sich zugleich in schlichten Beobachtungen und tiefgründigen Analysen manifestiert. Das Banale – eine Nachbarin, ein Butterbrot, ein missgelaunter Blick – wird bei ihr zum Zugang zu transzendenten Wahrheiten über das gesellschaftliche Koordinatensystem, in dem sich das Weibliche und das Kindliche notgedrungen verkrümmen. Ihre Sprache gleitet dabei zwischen einem nüchtern-dokumentarischen Gestus und einer fast hymnischen Lyrik hin und her. Auffallend ist auch die Fähigkeit der Autorin, die Tristesse deutscher Vorstadthausarchitektur in eine semantische Architektur des Unbehagens zu übersetzen – das Reihenhaus als Gefängnis, der Gartenzaun als ideologisches Gitter.

Die Rezeption des Buches im deutschen Literaturbetrieb war beachtlich – nicht zuletzt angesichts seiner Shortlist-Platzierung für den Deutschen Buchpreis 2022. Kritiker lobten unisono das narrative Wagnis und die Mischung aus autobiographischer Faktur und essayistischem Tiefgang. Denis Scheck sprach in seiner Sendung „Druckfrisch” von einem „sozialpolitisch brisanten Text mit poetischer Wucht“, während Marie Schmidt in der „Süddeutschen Zeitung“ die „therapeutische Archivierung kindlicher Ohnmacht“ hervorhob. Es ist jedoch beachtlich, dass nicht wenige Stimmen im feuilletonistischen Diskurs auf die Gefahr einer „Übermoralierung“ des Textes hinwiesen – eine ethische Aufladung, die das künstlerisch Ästhetische fast zu überfluten drohe.

Im Vergleich zu verwandten Werken, etwa Annie Ernaux’ „Die Jahre” oder Deborah Feldmans „Unorthodox“, bleibt Dröscher jedoch spezifisch deutsch: Ihr Fokus auf die Kleinlichkeit der bundesrepublikanischen Normalität, ihr analytischer Zugriff auf die Psychomesologie (wenn man denn diesen Neologismus erlauben darf) der 1980er Jahre, lässt ihr Werk als eine partikulare Studie erscheinen, die jedoch durch die Präzision ihrer Einblicke universelle Geltung beanspruchen darf. Während Ernauxs Text sich auf die Konstruktion ihrer weiblichen Identität durch gesellschaftliche Großwetterlagen richtet, verweilt Dröscher an den versunkenen, lokalisierten Orten individueller Scham und kollektiver Verdächtigung – stets im Schatten des „wahren Wortes“, das doch nicht gefunden werden kann.

Was aber sind die Stärken und Schwächen dieses Buches? Zweifellos rührt ein bedeutender Teil seiner Kraft aus der intertextuellen Dialektik zwischen Fiktion und Realität. Dröscher lässt die Ich-Erzählerin immer wieder kommentierend eingreifen, um deutlich zu machen: Dies ist kein Zeugnis im juristischen Sinne, sondern ein werkimmanentes Verfahren des Ringens um Wahrheit. Diese Metaebene erlaubt eine philosophische Tiefe, die sonst autobiographischer Literatur oft abgeht. Gleichwohl tendiert dieses Verfahren zuweilen zur Überfrachtung: In manchen Passagen verliert der Text seinen narrativen Pulsschlag zugunsten der Analyse, wodurch die dramatische Spannung verflacht und die Figuren zu Trägern von Thesen herabsinken.

Ein anderer kritikwürdiger Aspekt betrifft die fast manichäische Darstellung des Vaters: als Prototyp toxischer Männlichkeit gerät er zur Karikatur, als wäre das Reale hier einer ideologischen Vereinfachung geopfert worden. Gewiss, die literarische Verarbeitung kindlicher Perspektive erlaubt Verzerrungen – dennoch fragt man sich, ob diese Radikalität nicht auch eine Form literarischer Instrumentalisierung darstellt. Könnte Dröscher nicht auch hier mehr Ambivalenz wagen – nicht, um zu relativieren, sondern um die Komplexität des Patriarchats ernst zu nehmen?

Trotz dieser Einwände bleibt „Lügen über meine Mutter“ ein herausragendes Werk deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Es gelingt dem Text auf seltene Weise, das Private und das Politische, das Biographische und das Philosophische, das Ästhetische und das Ethische in ein Spannungsverhältnis zu setzen, das den Leser nicht nur bewegt, sondern ihn existentiell betrifft. Es ließe sich behaupten, dass dieses Buch ein notwendiger Beitrag zur Wiederbelebung einer Literatur des Inneren ist – gegen eine Welt, die sich selbst nur durch Statistiken, Algorithmen und schaumige Positivitätslyrik zu erklären weiß. In einer Ära, in der das Zeugnis zur Währung geworden ist, fragt Dröscher nach der Wahrheit des Zeugnisses, nach der fluiden Identität des Erinnerns.

Ein Werk also, das nicht einfach gelesen, sondern durchlebt, durchdacht und möglicherweise auch durchlitten werden muss. Ob es als „großer“ Roman in die Literaturgeschichte eingehen wird, ist nicht allein eine Frage seiner Wirkung, sondern seiner Nachwirkung. Wenn Dröscher der Literatur des 21. Jahrhunderts etwas hinterlassen hat, dann ist es die leise, aber insistente Mahnung, dass Wahrheit nicht im Fakt liegt, sondern im Mut zur Darstellung der eigenen Subjektivität – so paradox, unvollständig und widersprüchlich sie auch sein mag.

Denn, um mit einem modifizierten Bild Arthur Schopenhauers zu enden: Dieses Buch ist wie ein Spiegel, der nicht das Antlitz der Welt zeigt, sondern die Krümmungen unserer Seelenkammern – in Wahrheit mehr ein Prisma denn ein Spiegel.

By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium

Sprache, Proto-Idealismus, Metaphysik, Konstruktion, Erinnerung, Patriarchat, Autobiographie


1. Vgl. Schmidt, Marie: „Die famose Reflexion der Kindheit im Deutschland der 80er“, Süddeutsche Zeitung, 14. September 2022.
2. Scheck, Denis: „Buchkritik zu Dröscher“, Druckfrisch, ARD, Oktober 2022.
3. Ernaux, Annie: „Les Années“, Gallimard 2008; dt.: „Die Jahre“, Suhrkamp 2017.
4. Vgl. Dorothee Elmiger über Literatur und Wahrheit, in einem Essay für Merkur, Heft 866, Juli 2022.

Category: Deutsche Literatur

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Deutsche Bücher

„Eine Mottenoper auf Deutsch, basierend auf meinem Gedichtband Baah Baaah Krakschaap / Das F der Winterschlaf.“


In diesem Band zeige ich mich von meiner experimentellsten Seite – die Texte bewegen sich zwischen Lautpoesie, absurdem Theater und schlafwandlerischer Symbolik. Die Mottenoper baut darauf auf: ein musikalisch-dichterisches Gewebe aus Flügelschlägen, Traumprotokollen und klanggewordenen Metamorphosen.

Sie ist keine Oper im traditionellen Sinne, sondern ein Zeremoniell des Verpuppens und Entpuppens – das F steht hier nicht nur für „Fabel“ oder „Finsternis“, sondern auch für „Flackern“, „Fantasie“ und „Flucht“.

Gemeinsam mit meinen Kompliz:innen erforsche ich in diesem Werk die Grenzen zwischen Sprache, Klang und Verwandlung – ein Projekt, das sich der linearen Logik entzieht und stattdessen der Logik des Lichts folgt, wie es von Motten geträumt wird.

Ich habe außerdem eine Neue-Welle-/New-Wave-Formation, die Lieder mit deutschen Texten macht: The Stoss. The Stoss besteht aus Martijn Benders, Veronique Hogervorst und Dieter Adam. Unser Debütalbum heißt Höllenhelle Eisenbahn und ist in voller Länge auf Spotify zu hören.

Dieter hat (zusammen mit Martijn Benders) auch ein Soloalbum gemacht, um zu zeigen, dass großartige Poesie und deutsche Musik Hand in Hand gehen können.
Das poetische Glanzstück „Oh Schwulfürst von Schlüpferland“ sorgt derzeit für Furore in der internationalen Musikwelt.

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