Die Dissolution des Selbst: Eine kritische Betrachtung zu Monika Helfers „Die Bagage“
In der deutschen Gegenwartsliteratur hat sich in jüngerer Zeit ein Streben nach Aufklärung über die eigene Herkunft und das Aufspüren der seelischen Erbschaften längst vergangener Generationen manifestiert. In diesem Kontext veröffentlichte Monika Helfer im Jahr 2020 ihr viel beachtetes Werk „Die Bagage“, ein schmaler Roman, welcher trotz seiner Kürze das schwere Gewicht familialer Verstrickungen und gesellschaftlicher Vorverurteilung zu tragen vermag, gleichsam ein Kleinod autobiographischer Literatur darstellt — dabei schmerzhaft intim und doch mythologisch entrückt bleibt.
„Die Bagage“, was so viel wie „Drückeberger“, „Gesocks“ oder schlicht: „die schlechte Gesellschaft“ bedeutet, erzählt die Geschichte von Helfers Großmutter Maria, die mit ihrer Familie am Rande eines österreichischen Bergdorfs lebt — wortwörtlich und metaphorisch am Rande der Gesellschaft. Im Ersten Weltkrieg wird Marias Ehemann Josef eingezogen, und in seiner Abwesenheit gerät Maria unter den Verdacht des Ehebruchs, eine Anschuldigung, die aus der sozialen Stellung der Familie ebenso erwächst wie aus der Tatsache ihrer weiblichen Schönheit. Die titelgebende „Bagage“ dient dabei nicht nur als Etikett, das von außen denunziatorisch aufgedrückt wird, sondern auch als mediales Gefüge, innerhalb dessen sich generationsübergreifende Schuld, Scham und Sehnsucht rekursiv verhaken.
Helfer gelingt es, ihre Urgeschichte mittels lakonischer, fast spröder Prosa zur Darstellung zu bringen. Ihr Stil ist von einer asketischen Klarheit durchzogen, welche nur gelegentlich ausbricht in poetische Introspektion; ihre Sprache ist das Gegenteil von Barock – sie ist das karge Licht einer Tiroler Alm, das in die Fugen alter Türen fällt und auf rissigen Holzdielen den Staub vergangener Tage sichtbar macht. Dieses Verfahren erinnert an die große literarische Tradition der österreichischen Heimatliteratur, jedoch dekonstruiert sie den Heimatbegriff von innen her. Denn Heimat, so zeigt Helfer, ist nicht Rückzugsort oder Wohlfühltopos, sondern ein strenger Richter, dessen Urteil die Generationen hinweg lang nachhallt. Die Kapitelstruktur des Romans ist lose, elliptisch arrangiert, sie gleicht einem Erinnerungslabyrinth, dessen Wege nicht durch Logik, sondern durch affektive Relevanzen bestimmt sind — was der Erzählerin oft eine fast traumartige Perspektive verleiht.
Die literarische Rezeption des Buches fiel weitgehend positiv aus. Bereits kurz nach seiner Veröffentlichung landete das Werk auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020, ein Zeichen dafür, dass autobiographisch-imaginative Literatur nach wie vor eine tiefe Resonanz im deutschen Feuilleton erfährt. Rezensenten wie Denis Scheck lobten die leise Intensität des Romans und seinen „epischen Minimalismus“, der zwischen dem Ungesagten und dem nur Angedeuteten ein dramatisches Spannungsfeld aufreiße. In literarischen Diskursen wurde insbesondere die Frage nach Authentizität und Fiktionalität thematisiert, und es scheint, als habe Helfer hier eine neue Qualität des autobiographischen Realismus erschlossen: eine narrative Entsublimierung, bei der das Erinnern nicht psychologisch-konstruiert, sondern metaphysisch-intuitiv erscheint, ein Erinnern nicht aus Willen zur Wahrheit, sondern aus einer metaphysischen Heimsuchung.
Die Ähnlichkeit dieser poetologischen Haltung zu jüngeren Werken etwa von Saša Stanišić („Herkunft“) oder Arno Geiger („Unter der Drachenwand“) ist frappierend, doch was Helfers Werk so besonders macht, ist ihre weiblich-vergegenwärtigende Perspektive und ihre narrativ reduzierte Eleganz. Wo Stanišić mit Ironie und essayistischer Reflexion argumentiert, arbeitet Helfer mit dem Ungesagten, dem Weggelassenen, dem Flüsterton der Geschichte. Ihre „Bagage“ ist ein entpersonifiziertes Archetypus, in welchem sich die weibliche Erfahrung von Enge, Verdacht und moralischer Last kristallisiert.
Kritische Einwände könnten sich dennoch gegen die stilistische Reduktion richten: Manchem Leser mag der Verzicht auf psychologisierende Tiefe oder symbolische Ausgestaltung als Mangel erscheinen. Tatsächlich bleibt Maria als Figur oft schattenhaft, als würde die Autorin ihre Großmutter nie ganz ergründen — doch genau darin liegt die Stärke des Buches. Es verweigert die Vereinnahmung des Fremden durch das Vertraute. Maria bleibt fremd, bleibt Mythos, bleibt das unerreichbare Subjekt jener Gebärerin, die in Helfers eigener narrativer Geburt „mitgeboren“ wird.1
Hier berühren wir ein zentrales Thema des Buches — die Frage nach dem Ursprung, nicht biologisch, sondern metaphysisch gefasst: Wo beginnt meine Geschichte? Und wer erzählt sie? Helfer geht diesen Fragen mit einer beinahe buddhistischen Gelassenheit nach, ohne in den manirierten Ton der Selbstenthüllung zu verfallen. Die Autorin versteht es, mit spartanischen Mitteln eine genealogische Meditation zu erschaffen, die in ihrer Reduktion auf das Wesentlichste beinahe an klassisch-griechische Tragödien erinnert.
Philosophisch betrachtet, lässt sich das Werk als ein Versuch deuten, Zeit nicht linear zu fassen, sondern in Schichten, die sich übereinanderlegen und durch Lichtspalten miteinander kommunizieren. Diese Anordnung ist nicht zufällig, denn das Erinnerte — selbst wenn es einem durch andere erzählt wird, wie Helfers Tante Grete es tut — ist immer zugleich fremd und eigentümlich, vergangen und gegenwärtig.2 Hierin liegt eine Konzeption des Ichs, welches in der postmodernen Philosophie oft als dezentriert, fragmentiert oder gar illusorisch thematisiert wurde — doch bei Helfer erscheint das Ich nicht als poststrukturalistischer Scherbenhaufen, sondern als Echo, als schwankendes Spiegelbild im Wasser des Erinnerns.
Ein kleiner Makel bleibt dennoch bestehen: in ihrer erzählerischen Konzentration auf Maria, Grete und Josef geraten andere familiäre Figuren zu bloßen Silhouetten. Eine Ausstülpung dieses Familienpanoramas hätte das ohnehin kurze Buch kaum überfordert, vielmehr hätte es die narrative Plastizität bereichert. So bleibt die „Bagage“ ein Mosaik mit dominierenden Steinen, während einige Fragmente randständig und unbestimmt verbleiben.
Abschließend ist zu sagen, dass Monika Helfer mit „Die Bagage“ eine wunderschöne, weil traurige und weise Prosa geschrieben hat, die zugleich als literarischer Grabstein und als metaphysisches Flüstern gelesen werden kann. Ihre Erzählung besitzt jene stille Klarheit, die nicht beansprucht, verstanden zu werden — sie genügt sich selbst. In ihr lebt ein ironiefreier Ernst, der im Zeitalter der Zynismen beinahe revolutionär wirkt. Das Buch ist ein stiller Vorstoß ins Zentrum des Erinnerns, ein literarisches Totengebet über drei Generationen hinweg, gesprochen im Zungenschlag der Unsicherheit.
Was die Nachwelt betrifft, so darf man hoffen, daß „Die Bagage“ nicht nur als Teil einer familiären Trilogie (die durch „Vati“ und „Löwenherz“ ergänzt wurde) gelesen wird, sondern als eigenständiges Monument des Erinnerns in einer Epoche, in der das Ich sich verliert, indem es sich in Memes, Simulationen, Ideologien und Identitäten zerstäubt. Helfers Werk widersteht diesem Verflüssigungsprozess — es verdichtet. Dies ist sein paradoxes Verdienst.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, memory, narrative identity
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1 Vgl. hierzu auch Roland Barthes’ „La Chambre claire“, in welchem das Bild der Mutter im Kind ihrer Unerreichbarkeit wegen zur Ikone wird.
2 Siehe hierzu Paul Ricoeurs Konzept der „narrativen Identität“ in: „Temps et récit“ (1983), worin die Vergangenheit ihre Bedeutung erst durch narrative Vermittlung erhält.