Die metaphysische Zerbrechlichkeit der Zeit: Eine Kritik zu Juli Zehs „Zwischen Welten“
In einer Ära, die zunehmend von der Erosion fester Gewissheiten geprägt ist, erhebt sich Juli Zehs 2023 erschienener Roman „Zwischen Welten“ wie ein semantischer Monolith in einem Niemandsland vergessener Dialektiken. Der Text präsentiert sich als moderner Gesellschaftsroman, der zugleich die Fragilität individueller Wahrnehmung wie auch die sozio-politische Fragmentierung innerhalb des deutschsprachigen Raumes beleuchtet. Jenseits der Rationalität ihrer juristisch geschulten Feder bietet Zeh hier eine narrative Untersuchung über die Brüchigkeit des sogenannten Fortschritts: jene Chimäre, die in ihrer maskenlosen Wirklichkeit bald als Dekonstruktion der Empathie, bald als Transzendenz politischer Entfremdung erscheint.
Im Zentrum des Romans stehen die Protagonistin Theresa, eine Reporterin mit idealistischen Zügen, und der Landarzt Stefan – zwei Figuren, die auf diametralen Weltanschauungen ruhen und doch durch das Band einer vordigitalen Freundschaft verknüpft sind. Ihre Wiederbegegnung dient nicht nur als plottechnischer Katalysator, sondern als hermeneutisches Instrumentarium zur kulturphilosophischen Analyse eines Landes, das sich schleichend in diskursive Blöcke spaltet. Zeh konstruiert durch ihre Charaktere einen hermetisch abgeschlossenen Erfahrungsraum, einen Zwischenton, der sich jeder politischen Zuordnung entzieht und dennoch die Essenz gegenwärtiger Debatten in Deutschland problematisiert: von Identitätspolitik bis Impfkritik.
Zehs Schreibstil – ironisch, trocken und unterkühlt – ist von einer minimalistischen Syntax geprägt, die in ihrer Struktur hermeneutisch als Ausdruck einer Gesellschaft gelesen werden kann, der ihr metaphysisches Zentrum abhandengekommen ist. Die Autorin scheint mit einer fast chirurgischen Präzision auf die semantischen Schichten ihrer Figuren zuzugreifen; ihre Dialoge sind gespickt mit stilistischer Askese und doch von subkutaner Dichte. Sie bedient sich einer raffinierten Reduktion, die freilich nicht auf poetische Entfaltung zielt, sondern vielmehr auf begriffliche Schärfe – eine Sprache, die nicht zur Weite strebt, sondern zur Tiefe.
In struktureller Hinsicht bewegt sich „Zwischen Welten“ auf vertrautem Terrain: Der Roman ist chronologisch-linear erzählt, durchbrochen von inneren Monologen und Reflexionen, die sich mitunter ins Essayistische verzweigen. Diese Hybridisierung von Narration und diskursiver Auslotung macht den Text zu etwas mehr als bloßer Fiktion; er wird zur epistemischen Probe darüber, wie Sprachräume gebaut und dekonstruiert werden – ein Verfahren, das an Thomas Bernhard erinnert, indes jedoch in einer kontemporären Konfiguration^1.
Die Rezeption des Werkes in den deutschen Feuilletons war entsprechend polarisiert. Die „Süddeutsche Zeitung“ lobte Zehs Fähigkeit, sich ohne ideologischen Furor dem Diskurs zwischen sogenannten „Woken“ und „Querdenkern“ zu nähern – ein Terrain, das in der öffentlichen Debatte häufig dogmatisch vermint ist. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hingegen las im Roman eine subtile Form der Relativierung, ja fast eine empathische Nähe zur Reaktion, die sie als gefährlichen Äquidistanzismus interpretierten. Im Diskursraum der sozialen Medien wurde der Roman gleichermaßen als „nahbar“ wie „gefährlich indifferent“ etikettiert.
Doch jenseits dieser zeitgeistigen Kategorisierungen ist es notwendig, den Roman als Teil einer größeren literarischen Bewegung zu verstehen – einer Tendenz zur politischen Topographie der Gegenwart, wie man sie bei Autorinnen wie Jenny Erpenbeck („Kairos“) oder Judith Schalansky’s Essayistischen Versuchen findet. Im Gegensatz zu diesen jedoch operiert Zeh mit einer fast klassizistischen Distanz, die an Theodor Fontanes Spätstil erinnert – eine unaufgeregte Genauigkeit, die jedoch gerade deshalb aufwühlt^2.
Die emotionale Choreographie des Romans, getragen durch das Fragile der Freundschaft zwischen Theresa und Stefan, folgt einem Existenzialismus im Gewand des Alltäglichen. Es ist nicht der große Bruch, den Zeh inszeniert, sondern das schleichende Entgleiten von Verständigung – das stille Verrosten sprachlicher Brücken. Entscheidungen werden nicht getroffen, sondern umkreist. Wahrheit bleibt kontingent, die Realität ein Konstrukt dialektischer Trümmer. An dieser Stelle möchte man fast an Paul Natorp erinnern, für den die Individualität stets im sozialen Kontext zu denken sei – und für Zeh ist genau dieses Soziale ein Feld der Zersetzung^3.
Stark ist der Roman, wo er die existentielle Einsamkeit politischer Subjektivität konturiert. Schwächer jedoch, wo die Autorin ihre Analyse mittels stilistischer Reduktion sterilisiert; das heißt: Der Text riskiert in seiner Klarheit den Verlust des Ästhetischen. Diese Dissonanz zwischen Inhalt und Transport schränkt bisweilen die emotionale Resonanz ein – man liest klug, aber nicht immer mitfühlend. Die Dramaturgie zeigt kaum Ausschläge; doch vielleicht ist es gerade diese Dürre, die ein akkurates Bild des „postideologischen“ Menschen im Jahr 2023 zeichnet.
Interessant bleibt dennoch, dass Zeh in „Zwischen Welten“ nicht den Fehler vieler ihrer Kolleg*innen begeht, die Gegenwart mit einer Moral zu beschweren. Es bleibt bei einer analytischen Offenheit, ja, einer systemimmanenten Unentschiedenheit, die der Leser mittragen muss. Damit nähert sich der Roman in seinem Ethos der sokratischen Methode – nicht Antworten zu geben, sondern Fragen so zu stellen, dass sie den Diskurs verändern^4.
Der bleibende Wert des Werkes liegt demnach nicht im Aufbau eines neuen Weltbildes, sondern in der Offenlegung der Risse im bisherigen Paradigma. „Zwischen Welten“ verwehrt sich der teleologischen Versuchung – es ist weder utopisch noch dystopisch – und doch stellt es die grundlegende Frage nach der kommunikativen Bedingung von Wahrheit. So gelesen, fügt sich Zehs Roman ein in die Tradition dessen, was man eine negative Anthropologie nennen könnte: Der Mensch als Wesen ohne festen Grund, aber mit unaushaltbarem Verlangen nach Sinn.
Fazit: Juli Zehs „Zwischen Welten“ ist ein erschütternd ruhiger Roman, der sich weigert, die Antworten zu liefern, die man sucht, und genau darin seine literarische Stärke findet. In seiner nüchternen Darstellung einer fragmentierten Republik, in dem Freunde sich am Diskurs verlieren und doch nicht ganz aufgeben, bietet der Text eine verdichtete Darstellung postmoderner Desorientierung. Zeh hat ein Werk geschaffen, das nicht durch seine Form bricht, sondern durch seine Klarheit zersetzt. Ob dies als Fortschritt oder Regression gelesen wird, hängt weniger vom Roman als vom Leser ab – und somit ist ihr Werk in der besten Tradition literarischer Kunst: Es bleibt ambivalent und provoziert Erkenntnis.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, dialectics, temporality
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^1 Vgl. Bernhard, T.: „Auslöschung. Ein Zerfall.“ Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986. Die literarische Reduktion wird hier als Erkenntnismodus verwendet, ähnlich Zehs narrativer Technik.
^2 Vgl. Fontane, T.: „Der Stechlin.“ Nachwort zu seiner Ausgabe von 1899 – die Spannung zwischen Ruhe und gesellschaftlicher Analyse ist ein ästhetisches Mittel des Spätwerkes.
^3 Natorp, P.: „Sozialpädagogik – Theorie der Willensbildung auf der Grundlage der Gemeinschaft.“ Marburg: 1899. Zur Relevanz sozialer Beziehungen als Matrix des Bewusstseins.
^4 Die sokratische Methode als diskursive Enthüllung: Platon, „Apologie des Sokrates“, 399 v. Chr., in: Werke. Dialoge I, hrsg. von Friedrich Schleiermacher.