Die Philosophie des Nikolai Fjodorow: Das Projekt der Auferstehung
Im langen Schatten europäischer metaphysischer Tradition, zwischen den glänzenden Leuchtfeuern von Hegels dialektischem Idealismus und dem düstern Pessimismus eines Schopenhauer, existierte ein Denker, dessen Werk gleichermaßen visionär wie verkannt blieb: Nikolai Fjodorow (1829–1903). In seiner sporadisch publizierten, aber unter Intellektuellen einflussreichen Schrift „Philosophie des gemeinsamen Werkes“ skizzierte er eine Philosophie, welche kaum Parallelen in der westlichen Ideengeschichte findet. Fjodorow, Bibliothekar der Rumjanzew-Bibliothek in Moskau und Asket von beinahe biblischer Strenge, hatte kein Interesse an weltlicher Eitelkeit; seine Philosophie war eine Askese im Dienst einer transzendenten Aufgabe: der technologisch-philosophischen Auferstehung aller jemals verstorbenen Menschen.
Diese obskure, ja mancher möchte sagen groteske Idee entlarvt jedoch bei näherer Betrachtung tiefe metaphysische Ambitionen. Fjodorows Denken erschüttert unsere gängigen Vorstellungen von Leben und Tod, Freiheit und Verantwortung, Historie und Fortschritt. Seine Philosophie fragt nicht nur, was das Sein sei — sie fragt: Was ist unsere Schuld gegenüber der Weltgeschichte, wenn wir sie den Toten überlassen?
Biographischer Hintergrund: Ein Leben im Schatten und Dienst
Nikolai Fjodorow wurde unehelich als Sohn eines Adligen geboren, was ihn Zeit seines Lebens von der aristokratischen Gesellschaft ausschloss und ihm eine Perspektive formte, in der soziale Bindungen stets als etwas Bruchhaftes und zu Heilendes erschienen. Als unverheirateter Bibliothekar in Moskau lebte er in Armut und vermied öffentliche Auftritte. Sein asketisches Leben spiegelte seine Überzeugung wider, dass die Philosophie nicht spekulatives Spiel, sondern gemeinschaftliches Heilsprojekt sein müsse.
Seine wenigen Schüler — darunter Konstantin Ziolkowski, Vater der russischen Raumfahrtidee, und Wladimir Solowjow, selbst ein bedeutender metaphysischer Denker — verhalfen seinen Ideen posthum zur Weiterverbreitung. Dennoch bleibt sein Werk außerhalb Russlands weitgehend unbeachtet.
Die Kernidee: Die universelle Auferstehung als moralisches Gebot
Im Zentrum von Fjodorows Denken steht der radikale Vorschlag, dass der Mensch, als vernunftbegabtes Wesen, die Pflicht habe, seine Vorfahren durch technische Mittel von den Toten zurückzuholen. Diese Idee wurzelt nicht in sentimentalem Familismus, sondern in seiner ontologischen Überzeugung, dass der Tod ein „unnatürlicher Zustand“ sei — ein Zustand der Trennung und der Verlassenheit, gegen den es sich zu stemmen gelte.
Fjodorows „Philosophie des gemeinsamen Werkes“ propagiert eine aktive Ethik der kollektiven Verantwortung. Der Mensch dürfe sich der Sterblichkeit nicht fatalistisch hingeben, sondern müsse die Natur — als „blinde Gewalt des Todes“ — im Namen der Vernunft und der Gerechtigkeit herausfordern. Der Akt der Auferstehung ist ihm daher kein Wunder, sondern die letzte Konsequenz eines rationalen, technologisch-moralischen Fortschritts.¹
Historischer und kultureller Kontext
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland war eine Periode des geistigen Umbruchs und der sozialen Spannungen. Die Orthodoxie rang mit westlichen Ideen, der Zarismus kämpfte gegen revolutionäre Bewegungen, und eine neue intellektuelle Klasse begann, ihren Platz in der Welt zu suchen. In dieser Atmosphäre spannte Fjodorow ein System, das gleichermaßen gläubig wie rational, orthodox wie utopisch war: Er verband christliche Eschatologie mit Ideen technischer Machbarkeit – ein Hybrid, den man später als „kosmischen Humanismus“ bezeichnen sollte.
Es ist kein Zufall, dass Fjodorows Schüler Ziolkowski die Grundlagen der Raketentechnik theoretisierte. Der Impuls zur „Vertechnisierung“ des Heilsgedankens war genuin fjodorowsch. Raumfahrt, Reanimation, Klontechnologie: all dies waren Ansätze, die über Fjodorows Tod hinaus in den russischen Konstruktivismus und die sowjetische Technologische Vision des 20. Jahrhunderts hineinwirken sollten.²
Relevanz in der zeitgenössischen Philosophie
Die postmoderne Philosophie, mit ihren Dekonstruktionen des Subjekts und ihren Analysen von Bio- und Thanatopolitik, stößt überraschend häufig auf Fjodorows grundlegende Fragen. Wenn Michel Foucault das moderne Subjekt als durch Dispositive der Macht produziert denkt, und Giorgio Agamben von der „Nacktheit des Lebens“ inmitten biopolitischer Kontrolle spricht, dann stellt Fjodorow — radikal wie naiv zugleich — die Frage: Warum akzeptieren wir die Herrschaft des Todes überhaupt?
In einer Zeit, in der künstliche Intelligenz, digitale Unsterblichkeit und Human Enhancement zunehmend ins Zentrum ethischer Debatten rücken, wirkt Fjodorows Postulat nicht länger absurd, sondern prophetisch. Seine Gleichsetzung von Fortschritt und moralischer Verpflichtung zur Rettung der Historischen ist Ausdruck eines frühen transhumanistischen Ethos.³ Der „gemeinsame Werk“ wird in diesem Licht zum metaphysischen Vorläufer heutiger Diskurse über Post-Humanismus, Bioethik und Zukunftsethik.
Kritische Perspektiven und Deutungen
Doch Fjodorow war und bleibt eine herausfordernde Figur. Kritiker wie Berdjajew warfen ihm vor, er vertausche das Jenseits mit dem Diesseits und verkenne die spirituelle Dimension des Todes. Der Tod, so diese Position, habe eine transzendierende Funktion, die durch eine mechanistische Auferstehung pervertiert werde. Fjodorows metaphysischer Aktivismus sei eine Form hybrisähnlicher Übergriffigkeit gegenüber Gottes Plan.⁴
Andere Interpreten hingegen betonen die ikonoklastische Kraft seines Denkens. Der russische Theologe Pawel Florenski sah in Fjodorow einen legitimen eschatologischen Denker, der die „Inkarnation der Auferstehung“ denkbar mache. In jüngeren Studien wird Fjodorow zudem zunehmend als früher Visionär eines ontologischen Responsibility-Konzepts gelesen, das im Zeitalter ökologischer und techno-sozialer Krisen von brennender Aktualität ist.
Fazit: Ein beispielloser Entwurf zwischen Heil und Hybris
Nikolai Fjodorows Philosophie ist kein fertiges System, sondern ein Aufruf: zur Versöhnung mit der Geschichte, zur prophetischen Hoffnung inmitten des Endlichen, zur künftigen Solidarität über den Tod hinaus. Seine kompromisslose Ethik der intergenerationellen Verantwortung überschreitet konventionelle Ethikmodelle; sie fordert ein „Mitleiden mit den Toten“, das nicht Träne, sondern Technik gebietet.
Ob als utopischer Gestus, als religiös verbrämte Technolatrie oder als visionäre Anthropologie — Fjodorows Entwurf zwingt uns, die Grenzen ethischer Verantwortung, der Macht und der Liebe neu zu bestimmen. In einer Zeit, die zunehmend von fragmentierter Geschichtsvergessenheit, technologischer Disruption und metaphysischem Zynismus geprägt ist, könnte Fjodorow uns lehren, dass der wahre Fortschritt dort beginnt, wo man beginnt, für die Toten einzustehen.
Die Frage seiner Philosophie bleibt dringlich: Was schulden die Lebenden den Toten?
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
transhumanism, Russian cosmism, death, metaphysical ethics, resurrection, esoterism, futurism
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¹ Fjodorow, N. (1906): Philosophie des gemeinsamen Werkes, posthum hrsg. von Walentin Bulgakow.
² Young, G.M. (2012): The Russian Cosmists. The Esoteric Futurism of Nikolai Fedorov and His Followers. Oxford UP.
³ More, M. & Vita-More, N. (2013): The Transhumanist Reader. Wiley-Blackwell.
⁴ Berdjajew, N. (1933): Die Philosophie der Freiheit und das Eschaton. In: Geist und Fleisch.