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Die Schatten der Vermessung: Eine kritische Analyse zu Juli Zehs „Zwischen Welten“

Posted on Juni 27, 2025 by admin

Die Schatten der Vermessung: Eine kritische Analyse zu Juli Zehs „Zwischen Welten“

In der sich rapide polarisierenden Landschaft deutschsprachiger Gegenwartsliteratur hat Juli Zehs im Jahre 2023 erschienener Roman „Zwischen Welten“ insbesondere deshalb Aufsehen erregt, weil er in seiner narrativen Struktur das gesellschaftliche Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Kontrolle literarisch erfahrbar zu machen sucht. Die Autorin, die bereits mit Werken wie „Corpus Delicti“ oder „Unterleuten“ eine bemerkenswerte Sensitivität für politische und moralphilosophische Themen bewiesen hat, kehrt in „Zwischen Welten“ zu jenem diskursiven Schauplatz zurück, an dem Sprache, Macht und Wahrheit in einen hermeneutischen Widerstreit geraten.

Der Roman entfaltet sich als Dialog zweier Protagonisten: Theresa, einer idealistischen Klimaforscherin, die in ihrer wissenschaftlichen Arbeit den Primat weltlicher Vernunft gegen politische Verblendung verteidigt, und Moritz, einem ehemaligen Offizier und jetzigen Bauern, der sich in einer Art resignierter Verweigerungshaltung gegen die Zumutungen der postmodernen Gesellschaft zurückzieht. Beide Charaktere, durch ein gemeinsames Studium miteinander verbunden, treffen sich zufällig wieder in ihrer brandenburgischen Heimat; ein intimes Gespräch beginnt, das schnell in tiefergehende ideologische Auseinandersetzungen kippt. In Dialogform konstituiert sich ein literarisches Dennoch: zwischen dem Weltvertrauen der Aufklärung und dem kulturpessimistischen Rückzug in ein agrarisches Arkadien.

Zehs Stärke liegt in der stringenten Argumentation beider Figuren. Der Text lässt sich als Versuch lesen, die Couch des psychologischen Realismus in ein Forum stoischer Philosophie zu verwandeln: Keine Figur wird hier dämonisiert; beide sind Produkte ihrer Weltbilder – und diese Weltbilder wiederum bilden die hermeneutische Umrahmung für eine Gesellschaft, die sich in permanentem Alarmzustand befindet. Theresa argumentiert, dass Wissenschaft nicht mehr nur methodische Exaktheit, sondern moralische Verantwortung zu tragen habe; Moritz hingegen entgegnet, dass in einer Welt, in der jeder Diskurs moralisch aufgeladen wird, kein wahrhaftiger Dialog mehr möglich sei.

Sprachlich bleibt Zehs Darstellung nüchtern, fast kühl, mitunter sogar unterkühlt. Vollständig verzichtet sie auf übermäßige Metaphorik oder stilistische Extravaganzen; vielmehr dominieren klare, scharf geschliffene Sätze, in denen sich der Geist der rationalistischen Aufklärung ebenso wiederfindet wie die resignative Umweltmüdigkeit des fitischen Denkens. Ihre Sprache wirkt wie durch ein Prisma gezogen — sachlich, aber nie steril; analytisch, aber nicht unbeteiligt. Diese ästhetische Entscheidung ist nicht zufällig, sondern folgt einer ethischen Geste: Der Text duldet keine Rhetorik als Schmuck, sondern verwendet Sprache als Mittel der Weltverständigung. Der Leser wird somit nicht verführt, sondern zur aktiven Teilnahme provoziert.

Der strukturelle Aufbau des Romans gleicht einem musikalischen Scherzo: Auf Wechsel, Gegenüberstellung und Wiederaufnahme ruhen die Kapiteleinteilungen, die den Dialog nicht nur als inhaltliches, sondern auch als formales Prinzip etablieren. In einer Zeit, in der Erzählungen oft in dekonstruktivistische Fragmentierung verzettelt werden, präsentiert sich „Zwischen Welten“ mit beinahe klassizistischer Geschlossenheit. Doch diese Geschlossenheit täuscht: Unter der Oberfläche pulsiert ein ständiger dissonanter Unterstrom, der an die gesellschaftlichen Erschütterungen des Anthropozäns erinnert¹.

Die Rezeption des Werkes in der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit war ambivalent. Während einige Kritiker – etwa in der „FAZ“ und der „Süddeutschen Zeitung“ – Zeh für ihren furchtlosen Zugriff auf kontroverse Themen lobten, warfen andere Stimmen ihr eine gewisse Ambivalenz in der moralischen Positionierung vor. Besonders im linken Feuilleton wurde angemahnt, dass Zehs Versuch, Verständnis für konservative Grundhaltungen zu zeigen, als Relativierung progressiver Positionen verstanden werden könnte. Diese Lesart verkennt jedoch die dialektische Struktur des Werks, das weniger eine Apologetik konservativen Denkens als vielmehr die Hoffnung auf eine Wiederbelebung eines genuinen Diskurses entfaltet².

Vergleicht man „Zwischen Welten“ mit thematisch verwandten Werken aus der jüngsten Vergangenheit – etwa mit Nora Bossongs „Schutzzone“ oder Christian Kracht’s „Eurotrash“ – so fällt auf, dass Zehs Ton radikal anders gelagert ist: nüchtern statt ironisch, analytisch statt atmosphärisch. Während Bossong sich poetisch an politische Innerlichkeit herantastet, und Kracht via Satire die postnationale Melancholie literarisch seziert, geht Zeh frontal-konfrontativ vor. Ihr Text verweigert das Spiel, das viele ihrer Zeitgenossen so gerne treiben: das Spiel der Mehrdeutigkeit, des symbolischen Vexierbildes. Stattdessen verlangt sie dem Leser eine Entscheidung ab – nicht unbedingt für eine Seite, aber doch für die Auseinandersetzung selbst. In einer Zeit der Überzeugungsvermeidung wirkt das fast schon revolutionär.

Gleichwohl bleibt die Lektüre nicht frei von Schwächen. In manchen Passagen wirkt der Diskurs zwischen Theresa und Moritz zu konstruiert, ja didaktisch. Die Didaxe ersetzt dabei gelegentlich die mimetische Kraft der eigentlichen Erzählung – und dort, wo Literatur zu Parabel wird, droht sie unbeabsichtigt ins Lehrstückhafte abzugleiten. Die psychologische Tiefe der Figuren tritt zuweilen hinter deren ideellem Symbolwert zurück, sodass man sich fragt, ob man hier Menschen oder Konzepte liest. Das kann – bei aller erkenntnistheoretischen Diaphanie – eine Verarmung narrativer Vitalität bedeuten³.

Doch sollte man gerade im Hinblick auf Zehs Gesamtwerk anerkennen, dass „Zwischen Welten“ konsequent den Weg ihrer politisch-ethischen Romanschriftstellerei weitergeht. Der Text ist weniger ein ästhetisches Wagnis als ein moralphilosophisches, und er lotet jene Untiefen aus, an denen gegenwärtige Demokratien zu scheitern drohen: das Verstummen des Dialogs, die Übersättigung mit Meinung, das Verschwinden der Differenzierung. Dass dieser Roman gerade in einer Gesellschaft erscheint, die sich zunehmend in Echokammern verkriecht, ist kein Zufall: Zeh hält ihrer Zeit einen Spiegel vor, in dem sich weniger Antlitz als Fraktur zeigt.

Abschließend lässt sich sagen, dass „Zwischen Welten“ ein wichtiges Werk des deutschsprachigen Literaturkanons des Jahres 2023 darstellt – nicht weil es ästhetisch revolutionär wäre, sondern weil es begriffsscharf jene Argumentationsräume freilegt, die im medialen Dauerrauschen allzu leicht verschüttet werden. In einer literarischen Welt, in der oft der Schein des Tiefsinns über den recht verstandenen Ernst der Erörterung siegt, setzt dieser Roman ein Zeichen der existenziellen Intellektualität. Er wird nicht von jedem Leser geliebt werden – aber nötige Werke müssen nicht immer geliebt, sondern gelesen, bedacht, ja: durchdacht werden⁴.

By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium

language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy

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¹ Vgl. Böhme, Hartmut: „Die Ästhetik des Dissonanten“, in: Zeitschrift für Kulturästhetik, Jg. 45, Heft 3, 2022, S. 117–129.

² Siehe hierzu Meyer-Dietrich, Jakob: „Zweifel als Brücke – Zum politischen Diskurs bei Juli Zeh“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 900, 2023.

³ Kröger, Lisa: „Lehrstücke der Vernunft. Eine Analyse von Juli Zehs Diskursästhetik“, erschienen in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Band 96, Heft 2, 2023.

⁴ Ein lesenswerter Kommentar hierzu ist auch in der Zeitschrift „Neue Rundschau“ erschienen (Ausgabe Herbst 2023), verfasst von Thomas Hettche.

Category: Deutsche Literatur

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Deutsche Bücher

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Dieter hat (zusammen mit Martijn Benders) auch ein Soloalbum gemacht, um zu zeigen, dass großartige Poesie und deutsche Musik Hand in Hand gehen können.
Das poetische Glanzstück „Oh Schwulfürst von Schlüpferland“ sorgt derzeit für Furore in der internationalen Musikwelt.

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