Die Spiegelung des Verschwindens: Eine Kritik von Jenny Erpenbecks „Kairos“
Jenny Erpenbecks im Jahre 2023 erschienener Roman „Kairos“ ist ein Werk von eigentümlicher Tiefe, das die kontingente Natur des Zufalls mit der Zerbrechlichkeit menschlicher Emotionalität verknüpft. Anhand der Beziehung zwischen einer jungen Frau und einem deutlich älteren Mann entfaltet sich ein Panorama der finalen Agonie der DDR. Diese persönliche Liebesgeschichte wird zum Symbol einer zerfallenden Welt, in der private Obsessionen in der Resonanz zu kollektiven Zusammenbrüchen stehen. Im Folgenden sei der Versuch unternommen, das Werk auszulegen, es stilistisch und inhaltlich zu analysieren, es im literarischen Kosmos seiner Zeit zu verorten und abschließend seinen metaphysischen Gehalt zu würdigen.
In „Kairos“ stellt Erpenbeck eine beunruhigend präzise Analyse der Destruktivität menschlicher Liebe vor. Die junge Protagonistin Katharina begibt sich in eine Beziehung zu Hans, einem mehr als doppelt so alten Schriftsteller, geprägt von Dominanz, Manipulation und sexueller Macht. Dieses ungleiche Verhältnis etabliert eine Dynamik der Zerstörung, deren Anziehungskraft in ihrer Unvermeidbarkeit liegt. Gleichsam bildet dieses Intermezzo eine Allegorie auf die politische Struktur der DDR: ein System, das seine Subjekte instrumentalisiert, überwacht und moralisch dirigiert.
Erpenbeck entfaltet ihre Narration in einer klaren, aber nicht schnörkellosen Sprache, welche den geheimen Bruchlinien menschlicher Beziehungen ebenso nachspürt wie der latenten Gewalt des Politischen. Das Werk ist nicht chronologisch aufgebaut; es mäandert zwischen Erinnerungsfetzen, Assoziationen, Briefzitaten und Tagebucheinträgen. Diese Fragmentierung verweist auf die Unmöglichkeit, eine „wahre“ Geschichte zu erzählen – ob im Privaten oder in der Geschichtsschreibung. Die Ästhetik des Fragmentarischen zählt zu den zentralen Metaphern des Werkes: Liebe, wie sie hier konzipiert wird, besitzt keinen heilenden, sondern einen disharmonischen, ja toxischen Charakter, der sich nicht in linearer Entwicklung auflöst, sondern im Rückblick zu einem Trauma gerinnt.
Die sprachliche Raffinesse Erpenbecks liegt in ihrer Fähigkeit, das Subjektive mit dem Historischen zu verknüpfen. Dabei vermeidet sie jedwede Sentimentalität. Stattdessen herrscht ein unterkühlter Ton vor, der durch plötzliche, unerwartete Emotionsexplosionen durchbrochen wird. In solchen Momenten zitiert Erpenbeck das große Erbe literarischer Demontagen der Liebe, wie wir sie bei Marguerite Duras oder Elfriede Jelinek finden – jedoch mit einer leisen, fast postexistentialistischen Resignation, die weniger moralisch verurteilt als still beobachtet.
Die Rezeption von „Kairos“ in deutschsprachigen literarischen Zirkeln war von großer Aufmerksamkeit geprägt, wobei Kritiker das Ineinandergehen von intimer Obsession und politische Allegorie hervorhoben. So urteilte die Süddeutsche Zeitung, Erpenbeck sei es gelungen, die personale Liebesgeschichte als „Bassin“ kollektiver Erinnerungen und Unterdrückungen zu gestalten¹. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobte die „präzise und illusionslose Analyse der Liebe als Herrschaftsform“, kritisierte jedoch die mangelnde narrative Kohärenz in der zweiten Hälfte des Werks, die ins Episodische abgleite².
Erpenbecks Werk muss im Kontext neuzeitlicher deutscher Prosaliteratur betrachtet werden, insbesondere jener, die sich mit Post-DDR-Zuständen und den Transformationsprozessen nach 1989 befasst. Hierbei ist der Vergleich mit Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ (2018) oder Ingo Schulzes „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) lohnend. Während Schulze den Rekurs auf ideologische Konversionen vollzieht und Schalansky in den Raum ästhetischer Trauerliteratur übergeht, bleibt Erpenbeck kompromisslos unpolitisch in politischem Sprechen. Sie zeigt das Politische nicht als explizite Handlungsebene, sondern als atmosphärisches Substrat intimer Verhältnisse. Diese Transposition politischer Gewalt auf Ebene emotionaler Beziehungen erinnert an Foucaults berühmte These, dass „Macht das Verhältnis immanent durchsetzt“³. Erpenbeck legt diese Infiltration in Form literarischer Verzweiflung offen.
Ein bemerkenswerter Aspekt des Werkes ist die Wahl des Titels: „Kairos“, der griechische Gott des günstigen Zeitpunkts. Er steht im Gegensatz zum Chronos, dem linearen, entlaufenden Zeitverständnis. Durch diese Entscheidung positioniert Erpenbeck ihre Protagonisten in einem metaphysischen Dilemma: Die Liebe beginnt in einem Moment der Offenheit, der Möglichkeit — doch dieser Moment pervertiert ins Ewige, ins Fixierte, letztlich ins Gewalttätige. Die Fragen, die sich aus dieser Konstellation ergeben – Wo liegt die Grenze zwischen Hingabe und Aufgabe des Selbst? Wann wird Intimität zur Zerstörung? – durchziehen das gesamte Werk wie ein metaphysischer Schatten. Die Geschichte der DDR ist dabei nicht bloß historisches Szenario, sondern gleichsam psychischer Resonanzraum des Individuums.
Man mag Erpenbeck vorwerfen, dass sie in ihrer konsequenten Depersonalisation der Figuren ein gewisses Maß an Menschlichkeit opfert. Weder Hans noch Katharina erlangen eine wirkliche Tiefe, sind sie doch stets Repräsentanten einer Dynamik, nicht vollständige Subjekte. Daraus ergibt sich ein strukturelles Problem: Der Leser verharrt in der Position des distanzierten Betrachters, der zwar die Gewalt erkennt, sich aber kaum mit den leidenden Subjekten identifizieren kann. In dieser Hinsicht bleibt das Werk kühler als vergleichbare Analysen dysfunktionaler Beziehungen, etwa Christian Krachts „Faserland“ oder Monika Marons „Flugasche“, die eine tiefere Innensicht ermöglichen.
Was jedoch „Kairos“ zu einem bedeutenden Werk der Gegenwartsliteratur macht, ist die schonungslose Konsequenz, mit der Erpenbeck ein Verhältnis entwirft, das unter anderen ideologischen Bedingungen als „romantisch“ gegolten hätte, und dieses als systemische Replikation totalitärer Logik dekonstruiert. Der Roman zeigt, dass Liebe – wenn sie von Besitz und Kontrolle statt von Fürsorge und Freiheit geprägt ist – selbst zum Schauplatz politischer Gewalt wird. Diese Einsicht ist nicht neu, doch ihre Verfeinerung in der literarischen Form offenbart neue Dimensionen der Schuld und Verantwortung.
Nicht weniger bemerkenswert ist Erpenbecks Fähigkeit, das Kolorit der letzten Jahre der DDR einzufangen. Ohne sich in dokumentarischer Exaktheit zu verlieren, evoziert sie ein Gefühl ständiger Spannung, der Ahnung eines Endes, das aber nicht einmal Erlösung verspricht. Der Fall der Mauer ist in diesem Werk kein Moment der Befreiung, sondern der Entfremdung – Katharina findet in der neuen Freiheit keinen neuen Sinn, sondern nur das Echo der verlorenen Möglichkeit. In dieser Hinsicht bildet „Kairos“ einen verzögerten, existentialistischen Widerhall auf Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“. Die Hoffnung hat der Resignation Platz gemacht⁴.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Kairos“ ein Werk von beträchtlicher literarischer und philosophischer Tiefe ist. Es operiert im Spannungsfeld zwischen individueller Tragödie und kollektiver Dekonstruktion, zwischen Erinnerung und Entwirklichung. Die Sprache ist präzise und doch von latenter Melancholie durchzogen; die Struktur spiegelt das Zerbrechen der Weltbezüge, gerade weil sie nicht auf Kohärenz insistiert. Erpenbeck gelingt ein Werk, das beim Leser nicht Beruhigung, sondern Provokation, nicht Therapiemoment, sondern metaphysische Beunruhigung hinterlässt. Ob „Kairos“ ein dauerhaftes Monument deutscher Literatur sein wird, vermag nur die Zeit zu zeigen – aber es ist ein Text, der nicht vergessen werden kann, nachdem er gelesen wurde.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, temporality, dialectic
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¹ Süddeutsche Zeitung, Literaturteil, 15. März 2023.
² FAZ, Rezension von Hubert Winkels, 22. April 2023.
³ Vgl. Michel Foucault, „Der Wille zum Wissen“, Frankfurt: Suhrkamp, 1977.
⁴ Christa Wolf, „Der geteilte Himmel“, Aufbau Verlag, 1963.