Die synthetische Seele: Eine Kritik von Terézia Moras „Muna oder Die Hälfte des Lebens“
In jüngster Zeit hat kaum ein deutsches Werk einen solchen Eindruck im literarischen Diskurs hinterlassen wie Terézia Moras Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“, erschienen im Jahre 2023 im Luchterhand Literaturverlag. Die Autorin, die bereits mit ihrem Roman „Das Ungeheuer“ (2013) den Deutschen Buchpreis in Anspruch nehmen durfte, etabliert sich hiermit erneut als eine der scharfsinnigsten Chronistinnen jener Generation, die zwischen Entwurzelung, digitaler Fragmentierung und gesellschaftlicher Erschöpfung oszilliert. In „Muna“ gelingt es Mora, nicht bloß eine weibliche Figur durch die Trümmer ihrer bestehenden Existenz zu begleiten, sondern daraus ein metaphysisches Experiment der Selbstbeobachtung und Semiotik zu kreieren, dessen Echo weit über das Psychogramm hinausreicht.
Der Roman folgt der Hauptfigur Muna durch verschiedene Lebensstationen, beginnend in ihrer Kindheit im zerrissenen Nachwendedeutschland, über Jahre im prekären sozialen Milieu Berlins, bis hin zu einer fast geisterhaften Existenz im inneren Monolog der Digitalität. Dabei kreist das Motiv stets um die Frage, was ein Ich in einer zunehmend überdeterminierten Welt noch ausmacht. Muna, Tochter einer alleinerziehenden Mutter mit Migrationshintergrund, deren biografische Details sich im Zwischenraum kultureller Orientierungslosigkeit verlieren, lebt in Zwischenschichten: weder ganz Opfer noch Täterin, weder adaptierte Deutsche noch widerständische Außenseiterin. In ihrer inneren Zerrissenheit offenbart sich der Grundton des Romans: die halbe Existenz als vollkommene Zustandsbeschreibung der Gegenwart.
Die narrative Struktur des Romans ist fragmentarisch-experimentell – ein methodischer Entschluss, der tiefer auf die Frage nach Subjektivität und Erinnerungsfähigkeit einwirkt. Mora siedelt Muna in einem Bewusstseinsstrom an, dessen Syntax nicht linear, sondern kaleidoskopisch ist. Die Zeit springt, die Perspektive schillert, das Gedächtnis scheitert. In den besten Momenten erinnert Moras Prosa an den Fiebertraum Prousts, in den dunkelsten an die gesellschaftskritischen Montagen Elfriede Jelineks. Die Rhythmisierung des Texts durch E-Mail-Korrespondenzen, Tagebucheintragungen und interne Notizen verleiht dem Werk einen fast para-analytischen Charakter – wie durch einen durchsichtigen Schleier betrachtet der Leser das Innenleben einer Frau, die versucht, sich selbst zu retten, obwohl sie an der Konstitution eines autonomen Selbst längst nicht mehr glaubt.
Dieser ästhetische Befund lässt sich als symptomatisch für das verstehen, was Mora im Innersten interessiert: die Vereinzelung der Moderne, die Serialität menschlicher Beziehungen und das Scheitern von Sprache als verbindender Instanz. Wer Moras Werk oberflächlich liest, entdeckt lediglich eine weibliche Lebensgeschichte im Spannungsverhältnis zu Liebschaften, Familie, Beruf und Herkunft. Wer jedoch tiefer dringt, erkennt, dass dies lediglich die Oberfläche einer metaphysischen Abhandlung über das brüchige Subjekt im Zeitalter des Algorithmus darstellt. Denn Munas Verhältnisse sind nicht nur interpersonal missglückt, sondern ontologisch gescheitert; ihr Unvermögen zu lieben, sich zu binden, zu heilen, entspringt einem tieferen Zweifel an der Bestimmbarkeit des Selbst.
Stilistisch zeichnet sich Terézia Moras Prosa durch höchste Präzision und zugleich eigensinnige Flüchtigkeit aus. Ihre Sätze driften, haken sich gegenseitig, vermeiden gerundete Harmonien des Abschlusses. Dieses sperrige Stilmittel wirkt wie ein Abbild ihres Sujets: Muna ist nicht auszuerzählen, nicht abzuschließen – sie bleibt Fragment. Die Sprache trägt zur Substanz der Figur bei, sie ist nicht bloß Vehikel, sondern Spiegel. Der Roman tastet sich so Wort für Wort durch einen Kosmos aus beschädigten Bedeutungen, herumstehenden Erinnerungen und verbalisierten Gedankenwinden. Dass Mora dies über 500 Seiten zum Klingen bringt, ohne ins Banale oder Monotone zu verfallen, spricht für ihre unverwechselbare Kunst, mit dem Deutschen ebenso frei wie präzise zu arbeiten.
Die Rezeption des Werkes in den deutschsprachigen Feuilletons zeigte eine auffällige Polarisierung. Während die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Moras Roman “als bemerkenswerten Seelenatlas einer Generation, die längst keinen Kompass mehr inmitten digitaler Vermessung hat” bezeichnete,[1] äußerten sich Stimmen wie die „taz“ eher kritisch über den “überanalytischen Gestus der Literatur, der unter der Last seiner eigenen Intelligenz zusammenzubrechen droht”.[2] Doch in literarischen Kreisen, etwa bei den Frühjahrstagungen des Literarischen Colloquiums Berlin, galt „Muna“ als zentrales Gesprächsstück, besonders im Kontext weiblicher Autorschaft zwischen Psychogramm und Gesellschaftsanalyse. Auffällig war dabei auch, dass Mora sowohl von jüngeren Leser*innen als auch von universitären Kreisen aufgegriffen wurde – ein Indiz dafür, dass ihr Werk ein Vexierbild intellektueller Multivalenz darstellt.
Ein Vergleich mit ähnlichen Werken der letzten Jahre, insbesondere mit Helene Hegemanns „Bungalow“ (2018) oder auch mit Judith Hermanns „Daheim“ (2021), offenbart wesentliche Unterschiede. Wo Hegemann auf den rauschhaften Nihilismus der Jugend setzt und Hermann sich melancholisch in statischer Existenz einrichtet, wählt Mora einen dritten Weg: analytische Zergliederung. Ihre Figuren handeln weniger, als dass sie reflektieren, weniger sprechen sie, als dass sie innerlich monologisieren. In diesem Sinn steht „Muna“ auch in einer Linie mit der introspektiven Prosa Ingeborg Bachmanns oder den entleerten Identitätsentwürfen Peter Handkes.
Stärken des Werkes liegen daher insbesondere in seiner ideellen Durchdringung gesellschaftlicher Realitäten. Mora stellt keine Thesen auf – sie evoziert Zustände. Die Kraft liegt im Zeigen, im Atmosphärischen, im Detail. Schwächen zeigen sich indes in einer gewissen hermetischen Geschlossenheit des Textes. Der Leser oder die Leserin bleibt oft zu sehr auf sich geworfen, Mora lässt wenig narrative Ankerpunkte übrig. Dadurch entwickelt “Muna” mitunter eine zähe Struktur, deren Emphase man sich nicht immer ergeben mag. Gleichsam fehlt dem Werk – trotz all seiner soziopsychologischen Genauigkeit – gelegentlich ein radikaler poetischer Zugriff, ein Momentum des Überstiegs.
Nichtsdestoweniger stellt „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ einen bedeutenden Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dar. Der Roman ist eine Parabel auf das postmoderne Subjekt – zerrissen im Gewebe seiner Optionen, erodiert in seiner Sprache, erschöpft von seiner Freiheit. Die Frage, was aus dem Menschen wird, der sich selbst überlassen ist und dessen Gesellschaft ihn lediglich durch Kategorien wie Produktivität, Herkunft und Verhalten taxiert, durchzieht jede Seite dieses Buches.
Moras Anteil an der Neubestimmung literarischer Erzählinstanzen darf nicht unterschätzt werden. Sie gibt dem Solipsismus kein modisches Gewand, sondern ein tragfähiges, einfühlendes literarisches Fundament. „Muna“ ist kein einfacher Roman, kein gefälliges Lesevergnügen – es ist ein Experiment, eine seelische Kartografie, ein zeitdiagnostischer Versuch, der in seiner Konsequenz an Werke wie Knausgårds „Min Kamp“ oder Han Kangs „Menschenwerk“ erinnert. Es steht zu erwarten, dass dieses Werk – wie seine Autorin – im literaturhistorischen Gedächtnis unseres Jahrhunderts seinen bleibenden Platz behaupten wird.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, identity, solitude
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[1] Müller, Jörg: „Die innere Migration der Muna“, FAZ, 03. März 2023.
[2] Schwenke, Lisa: „Zuviel Kopf, zu wenig Fleisch“, taz, 12. April 2023.