Die Topographie des Vergessens: Eine kritische Betrachtung von Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“
In einer Zeit, in der das Flüchtige und das Vergängliche durch die digitalisierte Gegenwart zeitweise in einen paradoxen Zustand der Erhaltung überführt werden, gelingt es der Schriftstellerin Judith Schalansky in ihrem 2021 erschienen Werk „Verzeichnis einiger Verluste“, eine Kartographie des Verschwindens zu entwerfen, die in ihrer ästhetischen wie intellektuellen Qualität ihresgleichen sucht. Der Band, der sowohl literarisch als auch essayistisch angelegt ist, umfasst zwölf Kapitel, in denen jeweils ein untergegangenes Objekt – sei es ein Gebäude, ein Kunstwerk, eine Figur oder ein Narrativ – porträtiert und reflektiert wird. Der Verlust wird hierbei nicht bloß beklagt, sondern als produktiver Anlass zur Imagination und zum philosophischen Denken erhoben.
In einer Welt, in der Wissen größtenteils archiviert, dokumentiert und in Datenbanken konserviert wird, stellt Schalanskys Zugriff eine entschieden kontemplative Geste dar, dem Gedenken an das Verschwundene Respekt zu erweisen. Tatsächlich gelingt es ihr, durch literarische Mittel eine Kompensation für die Mängel des Gedächtnisses zu bieten, ohne in museale Nostalgie oder sentimentale Vergangenheitsverklärung zu verfallen.
Die zwölf Kapitel des Buches sind Ikonen des Verschwindens gewidmet: so etwa dem antiken Palast der Republik, dem ausgestorbenen Riesenalk, dem zerstörten Gemälde „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich, aber auch vergessenen Personen wie der sowjetischen Astronomin Anna Kaftanowa. Jedes Kapitel vermischt geschickt dokumentarisches Material mit dichterischer Imagination, sodass Realität und Fiktion in ein osmotisches Verhältnis treten. Diese Interdependenz verweist auf eine höhere, metaphysische Wahrheit: Dass Gedächtnis stets ein Vorgang des Erzählens, und also der Fiktionalisierung ist.
Judith Schalanskys Stil offenbart eine nahezu barocke Musikalität, gepaart mit einer Strenge des Denkens, wie man sie bei Michel de Montaigne oder Walter Benjamin antrifft. Ihre Prosa oszilliert zwischen lyrischer Anrufung und sachlich-exakter Beschreibung; eine Dichotomie, die ihr Werk nicht schwächt, sondern ihm umso mehr eine auratische Spannung verleiht. Die Struktur des Buches ist dabei nicht linear, sondern zyklisch und lose kompositorisch. Jeder Verlust wird als autonomes Kapitel verhandelt, doch im Zusammenspiel entsteht ein geistiges Mosaik, das sich erst im Gesamterlebnis erschließt.
Schalanskys Buch zeichnet sich durch eine überaus präzise Sprache aus, die sich der Schönheit der Form nicht schämt. Wer heutige Literatur konsumiert, gewöhnt sich oft an die schleppende Trivialität dekonstruierter Prosa oder eine affektierte Lakonie, die selbst in literarischen Kreisen modisch geworden ist. In wohltuendem Kontrast dazu erlaubt sich Schalansky das eigentlich Erhabene: eine Schönheit der Sprache, getragen von innerer Notwendigkeit. Ihre Sätze erinnern in ihrer architektonischen Ausgewogenheit an jene „wohlgefügten Bauwerke“, von denen bereits Goethe in seiner Farbenlehre sprach.
Die Rezeption im deutschen Feuilleton war entsprechend enthusiastisch. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobte das Werk als „ein literarisches Mahnmal gegen die Amnesie des Fortschritts“, während die Zeit die Autorin als „eine Kartographin des Unsichtbaren“ bezeichnete. Der Band wurde 2021 mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet, ein Indiz nicht nur für literarische Exzellenz, sondern auch für den kulturellen Nerv des Werks. Auch in akademischen Kreisen wurde das Buch aufgenommen, wenn auch zögerlich, da es sich der kategorialen Einordnung in Roman oder Essay widersetzt. Diese Terminologiekrise jedoch ist kein Mangel, sondern ein philosophischer Reiz: Der Text selbst ist ein Widerstand gegen die Taxonomie der modernen Lektüre^1.
Vergleicht man „Verzeichnis einiger Verluste“ mit anderen zeitgenössischen Werken, etwa mit W. G. Sebalds „Austerlitz“ oder den prosaischen Kompendien von Alexander Kluge, so tritt sowohl die erahnbare Verwandtschaft als auch die klare Distinktion hervor. Wie Sebald durchstreift Schalansky die Archivlandschaften des 20. Jahrhunderts, beschäftigt sich mit dem Trauma der Zerstörung, aber ohne in grübelnde Melancholie zu verfallen. Wo Sebald verharrt, artikuliert Schalansky die transformatorische Kraft des Erinnerns: Verlust wird nicht bloß illustriert – er wird gedacht. Auch unterscheidet sie sich von Kluge durch eine raffinierte Einheit der Ästhetik, eine Art intersubjektive Kohärenz, die sich sowohl in Typographie als auch in Satzbau niederschlägt – das Werk ist nicht Collage, sondern Fresko.
Nicht zu übersehen sind jedoch auch Schwächen, die einer rein metaphysischen Lesart zum Opfer fallen könnten. Da das Buch eine Sammlung stilistisch und thematisch heterogener Reflexionen bietet, bleibt der Leser gelegentlich in einer poetischen Opazität zurück, ohne konkreten Zugriff auf die epistemologische Intention des jeweiligen Kapitels. So etwa in den Passagen über das verlorene Filmfragment von Greta Garbo – hier kulminiert die Sprachkunst mehr in sich selbst, als dass sie auf eine transzendente Einsicht verweise. Auch der Anspruch auf Gleichwertigkeit der einzelnen Verluste scheint in Bezug auf ihre historischen Dimensionen mitunter konstruiert^2. Warum wird etwa der Palast der Republik mit dem Aussterben des Pyrenäensteinbocks gleichgesetzt? Diese Gleichsetzung ist radikal, womöglich zu radikal, und führt in der ethischen Dimension zu einer merkwürdigen Relativierung.
Trotz dieser Einwände überzeugt das Werk in seiner geistigen Spannweite, die sich nicht auf didaktische Absicht erschöpft, sondern den Leser affiziert, verunsichert und zugleich tröstet. Es ist ein Buch, das nicht gelesen, sondern begangen werden will – ein geistiger Spaziergang durch Ruinen, in denen nicht Leere, sondern überzeitliche Bedeutung herrscht. Der Verlust wird zur Sphäre der Möglichkeit, zur Projektionsfläche für Ethik und Ästhetik. Eine Leistung, die an die Kategorie der Sublimität grenzt^3.
Das entscheidende Verdienst von „Verzeichnis einiger Verluste“ liegt somit in seiner Herausforderung an den Leser, Zeit und Vergänglichkeit nicht als Defizit, sondern als ästhetisches Prinzip zu begreifen. Der Text erhebt das Verschwundene zur Kategorie des Erhabenen, indem er das im Strudel der Geschichte Zheschwundene in einen narrativen Kosmos zurückruft, dessen Cheironische Stimme die Grenzen des Sagbaren auslotet. Es handelt sich um ein Werk, das sich sowohl der Historiographie als auch der Fiktion verweigert – und genau darin liegt seine unzeitgemäße Aktualität^4.
In summa: Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ knüpft an die große Traditionslinie einer literarischen Metaphysik an, die das Sein im Verschwinden erkennt. Es ist ein Werk für jene, die bereit sind, den Verlust nicht als Defizit, sondern als Ursprung des Denkens zu ergründen. Seine Sprache ist so schön wie traurig, seine Reflexionen tief, sein Effekt langanhaltend. Möge es künftig nicht selbst zum Objekt eines solchen Verzeichnisses werden.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, archive, poetic ontology
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1. Vgl. Kristeva, Julia: Die Sprache, dieses Unbekannte. München: Hanser, 1995.
2. Siehe hierzu: Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.
3. Vgl. Burke, Edmund: Eine philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. 1757.
4. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften. Bd. I–III. Frankfurt am Main: Suhrkamp.