Die Unwägbarkeit des Selbst: Eine kritische Analyse von Nora Bossongs „Die Geschmeidigen“
In einer Zeit, da der politische Diskurs von der Zerklüftung entfremdeter Lager und der Schwund gemeinsamer Wahrheitstage dominiert wird, ragt Nora Bossongs Buch „Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens“ (2022) – wie ein Monolith der Selbstbefragung aus dem Nebel einer gesellschaftlichen Passivität empor. Die politisch-literarisch geschulte Feder der Autorin tastet suchend durch das Dickicht einer Generation, der die großen Ideologien abhandengekommen sind und in deren leerem Echoraum sich ein existentielles Vakuum auftut. Vor uns liegt kein klassischer Roman; vielmehr handelt es sich um eine essayistisch-autobiographisch grundierte Zeitdiagnose – ein intellektuelles Gebilde von beunruhigender Einsicht, wenngleich nicht gänzlich frei von inneren Brüchen.
Inhalt und Thesen
In „Die Geschmeidigen“ setzt sich Bossong mit ihrer eigenen Generation auseinander: den zwischen 1980 und 1990 Geborenen, die kurz vor der Digitalisierung erwachsen wurden, das Ende des Kalten Krieges als Kinder wahrnahmen und nun, inmitten multipler Krisen, ihre Stimme in der politischen Welt verorten müssen. Der Begriff der „Geschmeidigkeit“ fungiert dabei als Hauptmetapher: Er beschreibt eine Anpassungsfähigkeit, die nicht emanzipatorisch, sondern resignativ gemeint ist – eine passive Klugheit, die stille Konformität einer Generation, die sich in neoliberaler Selbstoptimierung eingerichtet hat und ihr moralisches Sensorium in der Mittekonfiguration politischer Debatten eingeschläfert sieht.
Bossong schildert Stationen ihres eigenen Werdegangs – u. a. ihre Zeit im Bundestag, internationale Beobachtungen, Begegnungen mit Gleichaltrigen –, stets eingebettet in tiefergehende Reflexionen über Verantwortung, politische Entfremdung und kulturelle Müdigkeit. Die Reise durch Bosnien, Belarus, Berlin und Brüssel folgt dabei keiner linearen Ordnung, sondern wird von einem aperiodischen Rhythmus der Betrachtung getragen, wie in einem Mosaik, das sich aus disparaten Selbstzeugnissen und analytischen Splittern zusammensetzt.
Ein zentrales Argument ihres Essays ist die These, dass die Kohorte der „Geschmeidigen“ ihre politische Energie nicht aus radikaler Kritik, sondern aus einer Art vorausschauender Diplomatie schöpft. Dies erweist sich jedoch zugleich als deren Schwäche: Die Vorsicht des Taktierens franst aus ins Unentschiedene, ins harmonische Sprechen ohne entschiedene Sprache. Damit stehen sie in scharfem Gegensatz zur protestbereiten Fridays-for-Future-Jugend, die Bossong vorsichtig bewundert, ohne sich mit ihr gänzlich zu identifizieren.
Stilistische und strukturelle Analyse
Bossongs Sprache ist ein Hybrid aus Analytik und Lyrik, was ihrer essayistischen Absicht zugutekommt. Ihre Sätze pendeln zwischen schlichter Klarheit und metaphorischer Verdichtung. Besonders eindrucksvoll sind Passagen, in denen sie sich einer fast poetischen Verdrossenheit hingibt, etwa wenn sie über das Verschwinden der Utopien nachdenkt oder sich der Sprachlosigkeit gegenüber den politischen Absurditäten unserer Zeit nähert. Was bei anderen als Pose verkommen könnte, wirkt bei Bossong authentisch – ihre Prosa atmet jene stille Intellektualität, die sich nicht in Dogmen flüchtet.
Allerdings mag man ihr ankreiden, dass sie gelegentlich zu sehr auf die doppelte Absicherung von Positionen bedacht ist. Die Verschränkung von Biographie und Analyse gelingt nicht immer auf Augenhöhe: gerade wenn sie den Tonfall politischer Vorschläge bemüht, kippt der Text mitunter in die Aporie der Mittelmäßigkeit. Es fehlt zuweilen die archimedische Frechheit, die den Essay zu einem revolutionären Genre machen kann. Hier zeigt sich das Paradox des Buches selbst: Der Stil oszilliert zwischen produktiver Ambiguität und lähmender Unschärfe.
Rezeption und öffentlich-literarischer Diskurs
„Die Geschmeidigen“ wurde im deutschsprachigen Feuilleton breit diskutiert – nicht immer mit wohlwollendem Ton. Die Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lobte Bossongs Versuch, „eine Sprache für das Unentschiedene zu finden“, mahnte aber zugleich eine „gewisse Selbstbespiegelung“ an. Die Süddeutsche Zeitung sprach von einem „mutigen, aber letztlich unentschiedenen Buch“, das „mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet“. Auffallend war die starke Resonanz bei einem jüngeren, politisch sensiblen Publikum, das sich von Bossongs melancholischem Realismus widergespiegelt fühlte.
Bemerkenswert ist auch, dass Bossong in zahlreichen Podien und Lesungen den direkten Dialog mit ihrem Publikum suchte – nicht als Dozentin, sondern als Fragende. Dies hebt den Text in die Sphäre einer kulturellen Intervention und nicht bloß einer literarischen Eitelkeit. Ihren Platz im Kanon zukünftiger intellektueller Logbücher hat das Werk damit wohl sicher, ungeachtet seiner Mängel.
Vergleich mit verwandten Werken
Vergleicht man „Die Geschmeidigen“ mit anderen Generationendiagnosen wie etwa Christian Krachtens „Faserland“ (als Kind seiner Zeit eine nihilistische Spiegelung der 1990er) oder auch Carolin Emckes „Gegen den Hass“, so zeigt sich Bossongs Werk in einem Zwischenraum: weniger destruktiv als Krachts literarisches Schweigen und ambivalenter als Emckes klare Moralität. Mit Judith Hermanns „Daheim“ teilt Bossong die Stimmung des Rückzugs, doch ersetzt sie die narrative Distanz durch ein intellektuellennahes Selbstbekenntnis.
Die Nachdenklichkeit dieses Textes erinnert auch entfernt an Adornos „Minima Moralia“, jedoch ohne dessen metaphysische Brechung. Bossongs Reflexion bleibt in jenem historisch so schwer zu verortenden Jetzt, in dem die Zukunft zwar ahnbar, aber nicht artikulierbar erscheint. Der Mangel an Transzendenz ist Teil der These – doch bedauerlicherweise auch Teil ihrer Schwäche.
Kritische Würdigung
Die Stärke von „Die Geschmeidigen“ liegt zweifelsohne in der behutsamen, aber tiefgreifenden Analyse eines inneren Zustands – sowohl eines Individuums wie auch einer Generation. Bossongs Blick verweigert sich obrigkeitlicher Geste und gönnt sich Momente der Ironie sowie der Selbstzweifel. In Zeiten pausenloser Standpunkt-Rhetorik ist dies erfrischend und notwendig.
Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autorin selbst ihre Geschmeidigkeit nicht immer zu durchbrechen weiß. Ihre kluge Zurückhaltung mündet mitunter in Textpassagen, die sich in resonanter Selbstbezüglichkeit verfransen. Der Essay leidet gelegentlich an dem, was er beschreibt: einer gewissen politischen Müdigkeit, einer Scheu vor Konkretion, einer Furcht, festgelegt zu sein.
Ein radikalerer Zugriff – sei es in sprachlicher, sei es in analytischer Hinsicht – hätte dem Werk einen tieferen Abdruck im literarischen Unterbewusstsein verschaffen können. Das Potential, das es in zahlreichen Ideenansätzen entfaltet, bleibt somit auf halbem Wege stehen: interessant, aber nicht transzendent; weitsichtig, aber nicht bahnbrechend.
Fazit und literaturgeschichtliche Einordnung
„Die Geschmeidigen“ ist ein Buch des vorsichtigen Wagemuts – ein Widerspruch, der seinem Thema wohl gerechter nicht gerecht werden könnte. In einem Moment gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit formuliert Bossong den Versuch, darin eine Form der Wahrheit zu finden – nicht endgültig, aber existent. Der Text erhebt sich aus der historischen Glätte des Spätmodernen und evoziert einen neuen Ernst, der nicht ideologisch, sondern biographisch verankert ist.
Sein Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur liegt in der seltenen Fähigkeit zur politischen Selbstentzifferung, zur sprachlichen Grenzvermessung des Ichs in kollektiven Krisen – eine Art negativer Utopie: nicht was wir sein sollten, sondern was wir gerade (nicht) sind.
Ob dieses Buch einen bleibenden Einfluss haben wird, hängt davon ab, ob zukünftige Leser:innen in seiner vorsichtigen Geschmeidigkeit eine Mahnung oder einen Spiegel sehen. So oder so: Es hat einen Platz in jenem stillen Pantheon der Texte verdient, die nicht schreien, sondern fragen.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
generationenethik, spätmoderne, sprachkritik, individualismus, essayistik, zeitgeist, diskursanalyse
1 Vgl. Theweleit, Klaus: „Der flexible Mensch. Über die Anpassungspraxis der Gegenwart“, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2019.
2 Sloterdijk, Peter: „Du musst dein Leben ändern“, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2009, S. 137–141.
3 Adorno, Theodor W.: „Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1951.
4 Emcke, Carolin: „Gegen den Hass“, Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2016.