Die Verwandlung des Weltverlusts: Über Julia Francks „Welten auseinander“
Julia Franck hat mit „Welten auseinander“, erschienen im Jahr 2021 beim S. Fischer Verlag, ein autobiographisch gefärbtes Werk vorgelegt, das sich den traumatischen Fragmentierungen des Subjekts in einer fragmentierten Gesellschaft widmet. Die Autorin, die bereits mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, wagt sich hier an eine persönliche Topographie der Entwurzelung, getragen von der Erzählhaltung der Entblößung, gleichwohl stets in Distanz zur sentimentalistischen Versuchung. Der vorliegende Text will diesen Versuch analysieren, in seiner geistigen Tiefenstruktur durchdringen sowie seinen Platz innerhalb des gegenwärtigen literarischen Diskurses bestimmen.
Der Roman schildert, in unprätentiöser, gleichwohl nie unreflektierter Weise, die Kindheit und Jugend einer namenlosen Ich-Erzählerin, deren Biographie frappierende Parallelen zu derjenigen der Autorin erkennen lässt. Ihre Kindheit spielt sich ab zwischen Ostberlin und Westdeutschland, in einem Milieu, das sich beständig als unzugehörig konstituiert. Die Mutter – ebenfalls Schriftstellerin – bleibt eine ambivalente Figur, präsent im Leben der Tochter durch ihre Abwesenheit und Abkehr, durch den Rückzug ins Geistige, in die Kunst und schließlich ins eigene Leiden. Familiäre Gewalt, psychische Instabilität, Vernachlässigung und eine politische Landschaft in Auflösung bilden den Resonanzraum dieser Ich-Erzählerin, die früh dann doch allein auf sich geworfen bleibt. Der ostdeutsche Exodus, die Asylunterkunft in Schleswig-Holstein, die Unwirtlichkeit westlicher Sozialinstitutionen durchzieht das Buch als tiefe Erfahrung des dislozierten Subjekts.
Doch ist dieses Werk mehr als bloß Narrative der Erfahrung: Es ist ein Versuch, das Verhältnis von Subjektivität zur Welt als gescheitert zu begreifen – ein transzendental-negativer Entwurf, der das „Weltverlorensein“ als ontologische Grundstimmung erkennbar macht. Die Erzählerin ist weniger ein Opfer konkreter Umstände als ein Medium des allgemeinen Zerfalls von Verhältnissen, der vor allem ein Zerfall von Vertrautheit ist. Das Trauma, so scheint es, ist nicht nur psychologisch, sondern metaphysisch fundiert.
Was die Struktur des Werkes betrifft: Franck operiert nicht mit Linearität, sondern mit einem destruierten Zeit-Verständnis. Erinnerungen fließen lose zusammen, ohne dass ein teleologischer Bogen darüber gespannt würde. Diese episodische, fragmentarische Struktur muss im Kontext des Themas gelesen werden: Im Erlebnis eines brüchigen Selbst, das in einer brüchigen Welt aufwächst, gibt es keinen linearen Faden – nur schmerzlichen Übergang. Der Raum, in dem sich Erinnerung und Reflexion aufspannen, ist weniger topographisch als existenziell. Franck schreibt mit einer sprachlichen Präzision, die stets das Ungesagte mittransportiert. Ihre Prosa ist schnörkellos, aber nicht kalt; sie zielt auf den Nerv und bewegt sich mit sparsamen, chirurgischen Schnitten in das Herz des Erlebten hinein. Die Syntax ist zurückgenommen, elliptisch, häufiger unterlassend als erklärend – darin liegt zugleich Stärke wie auch eine gewisse Schwäche des Romans.
In den literarischen Kreisen Deutschlands wurde „Welten auseinander“ überwiegend positiv aufgenommen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ lobte das Werk als „eine notwendige Auseinandersetzung mit der fragilen Konstruktion von Kindheit und Erinnerung“^1. Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa bemerkte die „nahezu schonungslose Reflexion einer Trauma-Biographie, ohne je in Larmoyanz oder exhibitionistische Detailversessenheit zu verfallen“. Dennoch gab es auch kritische Stimmen. So attestierte etwa die „Neue Zürcher Zeitung“ dem Buch eine „zu starke Selbst-Absorption“, deren literarische Konstruktion teilweise zu offensichtlich bleibe^2. In öffentlichen Diskursen wurde die Nähe der Erzählerin zur realen Biographie Francks aufgegriffen, was zu einer interpretatorischen Engführung führte, gegen die sich Franck in Interviews vergeblich zu wehren suchte. Der wahre Gehalt des Romans, seine metaphysische Suchbewegung, blieb vielfach unterbelichtet.
Im Vergleich mit anderen autobiographisch angelehnten Romanen der letzten Jahre – etwa Annie Ernaux’ „Die Jahre“ oder Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ – wirkt Francks Ansatz wesentlich introspektiver, stiller, fast schon hermetisch. Während Ernaux das kollektive Gedächtnis durch das individuelle Erlebnis organisiert, verzichtet Franck nahezu vollständig auf soziopolitische Kommentare. Ihre Kritik an den Verhältnissen bleibt implizit, durch die subjektive Resonanz auf Entfremdung artikuliert. Auch im deutschen Sprachraum ist ein Vergleich mit Helga Schuberts Tagebüchern oder Rainald Goetz’ fragmentierten Innerlichkeitsentwürfen erhellend. Doch bleibt Francks Werk ein Unikum in seiner Fokussierung auf das Kindliche als Urszene des Weltverlusts. Ihre Art, das Schweigen der Welt zu erzählen, erinnert in seiner intellektuellen Radikalität an frühen Peter Handke, auch wenn Stil und Tonfall grundverschieden sind^3.
Trotz dieser Qualitäten bleiben einige Einwände bestehen. Die perzeptive Intensität, mit der Franck das Kindheitstrauma rekonstruiert, gerät zuweilen an eine Grenze, an der die Prosa sich selbst zu fressen beginnt. Was als poetische Komprimierung intendiert ist, erscheint mancherorts als emotionale Hermetik. Der Lesende steht am Rand eines Abgrunds, dessen Tiefe er nur erahnen, aber selten durchdringen kann. Insofern bleibt die Erzählerin zugleich zugänglich wie unverfügbar. Damit wird auch das grundsätzliche Paradox dieser Literatur deutlich: Das Bedürfnis nach Mitteilung trifft auf die Erfahrung eines nicht Mitteilbaren. Francks Sätze kreisen um eine Leerstelle – um das, was nicht erinnerbar oder sagbar ist. Ihre stilistischen Stärken sind daher auch ihre Grenzen.
Trotzdem muss man anerkennen, dass „Welten auseinander“ ein bedeutendes literarisches Ereignis darstellt, gerade weil es dem Zeitgeist zuwiderläuft. In einer Epoche kommunikativer Überfülle wagt dieses Buch das Schweigen, die Andeutung, die Absenz. Es ist ein Werk gegen die Hast, gegen die Erklärbarkeit der Welt, gegen die Banalität der Psychologie und gegen die triviale Selbstermächtigung durch Autobiographie. Francks Erzählerin will nicht Recht haben, sie will nicht besiegen, sondern bestehen – in einem existenziell radikalisierten Sinne.
Das Werk behauptet sich so weniger durch seine Innovationskraft als durch seinen Mut zur Reduktion: zur Konzentration auf das Fragmentarische, zur Schonungslosigkeit der Perspektive, zur Beharrung auf der Zumutung des Weltverhältnisses. Es schreibt sich damit ein in jene Tradition deutschsprachiger Literatur, die das Leiden nicht zu therapieren sucht, sondern zur Erscheinung bringt – so wie Hermann Lenz oder Christa Wolf es taten^4. In dieser Hinsicht ist das Buch keine Epiphanie, sondern ein Ethos: das stille, aber erzitternde Bekenntnis eines zersplitterten Selbst.
In der philosophisch-literarischen Landschaft könnte „Welten auseinander“ zu einem Fixpunkt werden für die Auseinandersetzung mit einer anthropologischen Fundamentschmelze: jenem Ort jenseits von Herkunft, jenseits von Sprache und Geschichte, an dem das Menschsein sich nur noch negativ definieren lässt. Sollte dies gelingen, wird Julia Francks Buch seinen Platz nicht nur innerhalb der Literatur, sondern auch innerhalb einer zukünftigen Anthropologie des Weltverlusts behaupten.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, subjectivity, silence
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^1 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rezension zu „Welten auseinander“, 12. Oktober 2021.
^2 Neue Zürcher Zeitung, „Die Grenzen der autobiographischen Fiktion“, 20. November 2021.
^3 Vgl. Peter Handke, „Wunschloses Unglück“, Suhrkamp, 1972 – stilistisch völlig anders, thematisch jedoch vergleichbar in der Darstellung familiärer Derealisation.
^4 Vgl. insbesondere Christa Wolf, „Kindheitsmuster“, Luchterhand, 1976.