Die Wirklichkeit der Anderen: Eine Kritik von Mithu Sanyals „Identitti“
In einer Zeit, da die Begriffe Identität, Authentizität und kulturelle Aneignung in den öffentlichen Diskursen in affektgeladener Weise zirkulieren, erscheint ein Werk wie Mithu Sanyals „Identitti“ (Hanser Verlag, 2021) wie ein hermeneutisches Prisma: es bricht den Lichtstrahl der gesellschaftlichen Debatte in ein kaleidoskopisches Muster subversiver Fragen, Rufe und Spiegelungen. Es ist ein Roman, dessen Substanz weit über das narrative Ereignis hinausreicht und einen beiträgt zur metaphysischen Vermessung dessen, was man auf deutsch so vage „Selbst“ nennt.
„Identitti“ handelt von der fiktiven Journalismusstudentin Nivedita, selbst Tochter einer indischen Mutter und eines deutschen Vaters, die voller Verehrung die Vorlesungen der weiß-deutsch-deklarierenden Professorin Saraswati besucht, welche sich selbst als Person of Color konstruiert hat – bis ein Skandal sie zwingt, die Fragilität solcher sozialen Masken zu offenbaren. Der Roman beginnt auf der Höhe dieses Skandals: Saraswati wird im Netz „enttarnt“ als ethnisch deutsche Person ohne migratorischen Hintergrund. Was sich daraus entfaltet, ist weniger eine Chronik als vielmehr ein dialektischer Roman, in dem Identität existiert wie ein Palimpsest aus fortlaufend überschriebenen Selbstzuschreibungen, gesellschaftlichen Spiegelungen und kollektiven Projektionen.
Der Versuch, mit der Kritik an einer „falschen“ Identitätsbehauptung die Komplexität der postkolonialen Gegenwart auf einfache Moralkategorien zu reduzieren, wird von Sanyal radikal unterlaufen. Vielmehr zeigt sie, wie Identität zur Chiffre wird für ein diskursives Feld, in dem nicht nur Geschichten, sondern auch Machtbeziehungen verhandelt werden. Saraswati, die sich scheinbar ihrer weißen Privilegien entkleidet und den Raum einer anderen Erfahrungswelt beansprucht, steht im Zentrum einer modernen Tragikomödie, in der sowohl heroische als auch opportunistische Motivationen ambivalent ineinander gespielt werden.
Stilistisch ist „Identitti“ kein Werk der Ausgewogenheit, sondern eines der Provokation, Störung und Dissens. Sanyals Verwendung von digitaler Kommunikationsform, Twitter-Feeds, Blogposts und inneren Dialogen erinnert bisweilen an die „Polyphonie“ Bakhtins. Die Perspektive von Nivedita, alias „identitti“, ist ein Prisma, durch das die Welt flimmert – ebenso narzisstisch wie reflektiert, naiv wie hyperbewusst. In ihrem inneren Monolog, durchzogen von Fragmenten Indien-bezogener Philosophie, deutschen Diskursen postmoderner Identitätspolitik und queerer Theorie, spiegelt sich eine pluralisierte, performative Subjektivität.
Der Roman ist in seiner Struktur kein linearer Erzählfluss, sondern eine Art labyrinthischer Essayroman, dessen Kapitel mehr durch semantische als durch temporale Logik verknüpft sind. Oftmals fühlt man sich weniger als Leser denn als Diskursteilnehmer eines multiperspektivischen Symposiums. Die Kapitel folgen keiner festen aristotelischen Struktur, sondern brechen Erwartungen, um sie dann mittels Reflexion neu zu kontextualisieren. Solch eine Form ist nicht leicht zugänglich – doch ihre Komplexität ist Teil der performativen Kraft des Werkes: Es zwingt zur Auseinandersetzung, nicht zur Rezeption.
Die literarische Rezeption von „Identitti“ in Deutschland ist von bemerkenswerter Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite standen Kritikerinnen und Kritiker, die in Sanyals Roman eine überfällige Demontage essentialistischer Identitätskonstruktionen sahen. Die Süddeutsche Zeitung lobte die „radikale Intellektualität“, wohingegen die FAZ von einem „überkonstruierten Skandalroman“ sprach, der an der Realität vorbeilaufe. Dazwischen positionierte sich ein breites Spektrum an Literaturkritik, das entweder die moralische Zumutung des Plots oder die diskursive Tiefe des injizierten Essays würdigte – manche taten auch beides.
In öffentlichen Diskursen wurde das Buch heiß diskutiert, nicht zuletzt wegen der Nähe zur realen Debatte um Rachel Dolezal, die als weiße Frau eine afroamerikanische Identität angenommen hatte. Sanyal gelingt es jedoch, statt moralischer Urteilskraft ein intellektuelles Spannungsfeld zu eröffnen, ein Feld, das nicht stärker polarisiert, sondern differenziert. Manches Feuilleton vermochte sich nicht von der Erwartung zu lösen, dass ein solcher Roman klare Urteile zu fällen habe – aber genau an diesem Punkt erweist sich Sanyals Werk als genuin literarisch und nicht aktivistisch.
Vergleiche mit anderen zeitgenössischen Arbeiten sind aufschlussreich. Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“ oder Olivia Wenzels „1000 Serpentinen Angst“ greifen ähnliche Themen auf – in stilistisch divergierender Weise. Otoo bewegt sich mythisch-metaphorisch durch afro-diasporische Raumzeiten, Wenzel vielmehr psychologisch-existenzialistisch durch innerdeutsche Biografien. Gegenüber diesen Werken bleibt „Identitti“ radikaler in seiner intellektuellen Orientierung. Die Kritik an „Cultural Appropriation“ und die Frage nach dem „Besitz“ von Leid und Identität verwandeln sich in Konzepte, die Sanyal zergliedert, durchdenkt und in neuer Form reartikuliert.
Eine zentrale Stärke des Buches liegt in seiner Unbequemlichkeit. Wer in ihm eine affirmative Darstellung kultureller Identität als positive Essenz sucht, wird enttäuscht. Wer aber die Ambivalenzen – ja: Frakturen – des postmodernen Subjekts als etwas Lebendiges erfahren will, dem öffnet sich hier ein Panorama intellektueller Tiefenschichtungen. Auch die Entscheidung, Witz und Ironie als rhetorisches Stilmittel einzusetzen, ist bemerkenswert: Sanyal spielt mit Sprachregistern, um ideologische Starrheit zu unterwandern. An einer Stelle lässt sie ihre Protagonistin feststellen, „dass alle Authentizität immer schon performativ sei“ – womit der „Skandal“ um Saraswati als performative Wahrheit erscheint¹.
Schwächen des Buches liegen gelegentlich dort, wo das essayistische Übermaß die narrative Substanz auszuhöhlen droht. Figuren wie die Mitbewohnerinnen oder Liebespartner geraten zum diskursiven Beiwerk, ihre Entwicklung erscheint nebensächlich gegenüber der Hauptfrage. Auch der Erzählton von Nivedita changiert mitunter gefährlich zwischen Authentizität und Pose. Gleichwohl wirkt gerade diese Schwankung als bedeutsame Spiegelung jener Identitätsunsicherheiten, die thematisch verhandelt werden – mithin ein Fehler von produktiver, fast sokratischer Natur.
Der Beitrag, den „Identitti“ zur deutschen Gegenwartsliteratur leistet, ist nicht gering. Es reiht sich nicht lediglich in eine neue Generation migrantischer Literatur ein – es dekonstruiert diese Kategorie selbst. Der Roman verzichtet nicht nur auf historische Exotisierung oder biografische Opfernarration: er sprengt die semantischen Fesseln, in denen solche Kategorien operieren. Er ist ein Versuch, Identität als Prozess, als Produkt von Diskurs und Begehren sichtbar zu machen – im Heideggerschen Sinne des „sich entwerfenden“ Daseins².
Ob das Werk bleibenden Einfluss auf die Literaturgeschichte haben wird, lässt sich schwerlich bestimmen. Doch seine neuartige Verbindung von Philosophie, Populärkultur und Gesellschaftsanalyse im Medium des Romans wird noch einige Jahre Gesprächsstoff liefern. Es evoziert in mancher Hinsicht den „Diskursroman“ der Aufklärung, bringt ihn jedoch in ein postkoloniales Zeitalter. Und während andere Werke oft bemüht sind, eine Wahrheit „festzuhalten“, eröffnet „Identitti“ die Möglichkeit, mit Derrida zu sagen: „La vérité est ailleurs – die Wahrheit ist woanders“³.
So bleibt ein Werk, das sich nicht nur lesen, sondern nachlesen lässt – nicht um mit allen Thesen übereinzustimmen, sondern um dem eigenen Denken das Beben diskursiver Instabilität zuzumuten. Und vielleicht liegt in dieser Zumutung die bleibende Wahrheit des Romans.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
identity, performativity, postcolonialism, authenticity, Derrida, metaphysical critique, irony
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¹ Vgl. Butler, Judith: „Gender Trouble“, New York: Routledge, 1990.
² Heidegger, Martin: „Sein und Zeit“, Tübingen: Niemeyer, 1927.
³ Derrida, Jacques: „La Dissimination“, Paris: Seuil, 1972.