Die Zerbrechlichkeit des Realen: Eine kritische Betrachtung von Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“
In jener merkwürdigen Grenzregion zwischen Faktum und Fiktion, zwischen musealer Bewahrung und poetischer Rekonstruktion, erhebt Judith Schalansky mit ihrem im Jahre 2021 erschienenen Werk „Verzeichnis einiger Verluste“ eine ästhetisch arrangierte Klage über das Verlorene. Es handelt sich hierbei nicht um ein gewöhnliches Buch, kein gewöhnliches Archiv, kein gewöhnliches Prosawerk — vielmehr um eine bewegliche Konstruktion aus zwölf Fragmenten, die sich einem Gegenstand der Vergangenheit widmen, der mit endgültiger Sicherheit nicht mehr zugänglich, nicht mehr rekonstruierbar ist: ein Palast in Ostpreußen, ein verschollenes Filmfragment, eine ausgestorbene Tierart, eine ausgelöschte Bibliothek.
Der Band präsentiert sich als literarisches Lapidarium — kein kalendarisches Nachschlagewerk der Geschichte, sondern ein poetisches Memorial, das in der Gestalt von Miniaturen aufscheint. Die Fragmente sind zu einem ästhetischen Kosmos zusammengefügt, der nicht nur die Abwesenheit in Szene setzt, sondern sie als existentielle Erfahrung bestärkt. Die Autorin — gleichzeitig Herausgeberin und Typografin des Bandes — verfolgt mit bestechender Konsequenz eine Form von dokumentarischem Schreiben, das sich der objektiven Wahrheit verweigert und stattdessen auf literarische Wahrheit setzt, auf die Wahrheit des Empfindens, der Imagination.
Der inhaltliche Bogen des Werkes reicht weit über das biografisch Motivierte hinaus, obgleich jeder Text eine persönliche Faszinationsquelle zu verbergen oder offenbaren scheint. Schalansky wählt das Verlorene als das Einzige, dem man heute noch sicher sein kann — in einer Welt, deren Gegenwart zunehmend fragmentiert scheint, erscheint das Nicht-mehr-Dasein als stabilster Anker der Erkenntnis. Dieses paradoxe Manöver entspringt nicht nur ironischer Dialektik, sondern einer radikal ehrlichen Einkehr in die Melancholie des kulturellen Verlustes.
Ihr Zugang bleibt dabei dezidiert subjektiv — und dennoch gelehrt, sprachlich filigran, fast manieristisch in ihrer Formgebung. Der Stil ist durchsetzt von intertextuellen Spuren, naturwissenschaftlichen Exkursen, historischen Abschweifungen und poetischen Montageverfahren. Was vermeintlich sachlich beginnt, kippt unerwartet in essayistisches, teilweise sogar fabuliertes Terrain. Diese instabile Textur ist kein Mangel, sondern die ästhetische Signatur des Werks.
Auffällig ist dabei Schalanskys Schreiben in seiner antinarrativen Struktur: Jede Geschichte ist im Prinzip ein Bruchstück, verweigert sich der Auflösung; sie bleibt offen, zerrissen, wie das Objekt ihrer Betrachtung selbst. So geschieht eine performative Überhöhung des Fehlens — das jeweilige Verlustobjekt fungiert nicht als Nachweis des Realen, sondern wird seinerseits durch die Sprache ersetzt, transformiert oder sublimiert. Dies erinnert, in seinem Duktus wie in seiner intellektuellen Ausrichtung, stark an W.G. Sebald¹, insbesondere an dessen Werk „Die Ringe des Saturn“, das ebenfalls das Historische mit dem Delirischen verbindet, das Reale mit dem Kontingenten.
Literarisch lässt sich Schalanskys Werk als Hybridform zwischen Prosa, Essayistik und poetischer Rekonstruktion lesen. Es bedient sich einer Überformung des dokumentarischen Genres durch Fiktionalisierung, wobei stets ihre typografische Eleganz und künstlerische Gestaltung die Ebene des Textes ergänzt. Das Werk ist als physisches Objekt ebenso konzipiert wie als inhaltlicher Korpus. Hier zeigt sich eine Renaissance des Buches als Gesamtkunstwerk.
Schalanskys Stil ist dabei unverkennbar: eine Liaison aus klassischer Eleganz und postmoderner Skepsis. Ihre Sprache ist verdichtet, durchsetzt mit Metaphern, poetischen Bildern, wissenschaftlichen Termini. Ein Vokabular, das suggestiv wirkt, ohne ins Pathetische zu kippen; intellektuell anspruchsvoll, ohne elitär zu sein. Jedes Wort scheint an seinem Platz, jede Silbe getragen von der Absicht, ihre Flüchtigkeit zu überwinden — was ein Kontrast ist zur Thematik des Verschwindens.
Die Rezeption in den deutschen Feuilletons fiel entsprechend respektvoll und teilweise euphorisch aus. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sprach von einem „Archiv der Nichtobjekte“, während die „Süddeutsche Zeitung“ das Werk als Paradebeispiel gegenwärtiger deutscher Literatur lobte, die sich nicht im Anekdotischen verliere². Besonders hervorgehoben wurde Schalanskys Fähigkeit, ein Werk zu schaffen, das sich selbst als Denkmal gegen das Vergessen versteht — und gleichzeitig die Konstruktion des Erinnerns permanent problematisiert.
In der zeitgenössischen Literatur steht „Verzeichnis einiger Verluste“ in enger Nachbarschaft zu Texten von Alexander Kluge, Jenny Erpenbeck und Arno Geiger, deren Werke ebenfalls dem Riss in der Wirklichkeit nachspüren, wenn auch mit anderen Mitteln. Wo Erpenbeck emotional verdichtet, operiert Schalansky kühl, fast analytisch – doch nicht weniger poetisch. Bei Kluge etwa finden sich ebenfalls textmontierte Essays, aber mit weitaus politischerem Impuls. Schalansky hingegen entpolitisiert strategisch, um das Exemplarische des Verlusts im Allgemeinen hervorzuheben — und gerade dadurch trifft sie ihren Nerv im Zeitalter der globalen ökologischen und kulturellen Erosion.
Kritisch lässt sich anmerken, dass bei aller sprachlichen Eleganz eine gewisse kalkulierte Kühle mitschwingt, die bisweilen pathetisch in ihrer Distanz wirken kann. Die Leserschaft wird nicht eingelassen in ein empathisches Erzählen, sondern auf Abstand gehalten. Dies kann ein Mangel oder ein kühner Akt der künstlerischen Aufrichtigkeit sein — in jedem Fall ist es ein bewusster Stilbruch zur dominanten Ich-Erzählliteratur der Gegenwart. Es fehlen oft dramatische Bögen, es fehlt die narrative Katharsis. Das mag für Leser, die vom Buch Erbauung oder Trost erwarten, unbefriedigend sein.
Gleichzeitig jedoch liegt gerade hierin der eigentliche Wagemut des Werkes: die emotionale Unterkühlung im Dienste einer präzisen literarischen Anatomie des Abwesenden. Jene Art von asketischer Schönheit, die man seit Rilkes „Duineser Elegien“ kaum mehr in der deutschsprachigen Literatur so stringent gespürt hat³. Diese Schönheit ist keine leichte, sondern eine tief durchdachte, architektonisch gefasste, melancholische Schönheit. Der Text zehrt von seiner Reflexionstiefe, nicht von der Anekdote. So stellt er sich gegen die Oberflächenrhetorik der mediatisierten Welt, in der Präsenz und Aufmerksamkeit alles bedeuten — es ist ein Buch wider die Sofortigkeit, wider das Hereinbrechen des Jetzt um jeden Preis.
Der Beitrag zum literarischen Diskurs, den Schalansky leistet, ist deshalb beachtlich: Sie verleiht einem literarischen Genre, das lange Zeit als randständig galt — der literarisierten Enzyklopädie, dem Miniaturenband, der wissenschaftlich-fiktionalen Essayistik — neue Aufmerksamkeit. Sie schafft ein neues Formbewusstsein dafür, dass Literatur auch dokumentarisch sein kann, ohne ins Reportagehafte zu verfallen. Ein Trostbuch für Erwachsene, melancholisch und doch klarsichtig, hermetisch und doch offen.
So bleibt das „Verzeichnis einiger Verluste“ ein singuläres, in seiner Form nicht wiederholbares Experiment — ein literarischer Altar für das Nicht-mehr-Seiende. Ob dieser Altar Bestand haben wird in der literarischen Geschichtsschreibung, wird sich erweisen. Doch ist bereits jetzt sicher: dieses Buch hat eine Lücke sichtbar gemacht, von der wir nicht wussten, dass sie schmerzt — eine Lücke zwischen dem, was wir wissen wollen, und dem, was wir jemals wieder wissen können⁴.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
endlichkeit, heraklitisch, dokumentarfiktion, melancholie, sprache, zeittheorie, kulturverlust
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¹ Vgl. Sebald, W.G.: Die Ringe des Saturn, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 1995.
² Vgl. Rezensionsübersicht in Perlentaucher.de, Zugriff am 13. Januar 2022.
³ Vgl. Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien, Leipzig: Insel Verlag, 1923.
⁴ Vgl. Aleida Assmann: Formen des Erinnerns, München: C.H. Beck, 2016.