Ein Glimmen aus Glas: Kritische Betrachtung zu Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“
Inmitten einer Welt rastloser Informationsflut und digitaler Unmittelbarkeit erschien 2020 Judith Schalanskys Buch „Verzeichnis einiger Verluste“, eine literarische Kompilation von Trauerarbeit, Dokumentation, Fiktionalisierung und meditativer Metaphysik. Der Titel verheißt bereits jenes Unabgeschlossene, jenes nie gänzlich Festzuhaltende, das der Gegenstand des Werks sein wird: Momentaufnahmen, Epitaphe, Annäherungen an das, was verloren ist und doch im Geist des Erinnerns fortbesteht.
Die Autorin präsentiert in zwölf Kapiteln eine Sammlung von Texten, die jeweils ein reales Objekt des Verlusts zum Ausgangspunkt nehmen – von der verschwundenen Pazifikinsel Tuanaki, über die verbrannte Alexandrinische Bibliothek, bis hin zu persönlichen Dingen verlorener Existenzen. Obwohl die Kapitel auf scheinbar disparate historische und geographische Kontexte verweisen, webt Schalansky daraus ein Gewebe der Reflexion über Zeit, Verfall, Erinnerung und Literatur selbst. Jedes Kapitel wird von einer Miniatur-Vignette eingeleitet, die gleich einer musealen Plakette das verloren gegangene Objekt beschreibt. Dies vollzieht sich nicht im Ton trockener Archivprotokolle, sondern mit einem feinsinnigen, oft fast poetischen Pathos, der dem Leser suggeriert, dass selbst das Verschwundene eine Aura besitzt, die uns nie ganz verlässt.
Der Grundgedanke – das Unauflösliche zwischen Fakt und Fiktion – erinnert an Jorge Luis Borges’ „Ficciones“, jedoch mit dem melancholischen Touch einer modernen Vanitas-Meditation. Schalansky schlägt eine Brücke von der physischen Welt des Greif- und Dokumentierbaren hin zur inneren Welt der Konstruktion, der Projektionen und Sehnsüchte des Menschen angesichts seines unausweichlichen Endes. Das Buch wirkt dadurch wie ein modernes Sarkophagobjekt der Literatur – nicht im Sinne eines Grabmals, sondern als Sarg der Erinnerung, in dem man Geschichten und Legenden konserviert, um dem endgültigen Schweigen etwas entgegenzusetzen.
Die Sprache des Werkes ist bemerkenswert nuanciert, geschliffen und bewusst literarisch, was in einer Epoche stilistischer Verflachung als Akt des Widerstandes gelesen werden kann. Schalansky bewegt sich eloquent zwischen deskriptiven Abschnitten voller historischer Akribie und poetischen Passagen, in denen Reflexion, Imagination und Sprache ineinander übergehen. Stichworte wie „palimpsestisch“, „irreduzibel“ oder „auratisch“ tauchen auf – das Vokabular verweist auf ein geschultes ästhetisches Bewusstsein, das seine Legitimation in der großen Tradition deutschsprachiger Literatur von Benjamin bis Sebald findet. Der Aufbau des Werkes ist zwar non-linear, dennoch folgt die Anordnung der Kapitel einer inneren Dramaturgie: Der Verlust wird nicht als einmaliger Akt, sondern als Kontinuum vorgestellt, dem sich das Subjekt immer wieder neu aussetzt.
In der deutschen Literaturszene wurde „Verzeichnis einiger Verluste“ mit großem Enthusiasmus aufgenommen. Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lobten besonders den „formbewussten künstlerischen Umgang mit Archivmaterialien“ und attestierten Schalansky eine „neue Form der bibliophilen Erzählverantwortlichkeit“1. Die Süddeutsche Zeitung nannte das Buch ein „melancholisches Meisterwerk“, das „auf leisen Sohlen die großen Fragen aufwirft: Was bleibt? Was vergeht? Was sind wir im Angesicht des Vergehens?“ Das Buch war für diverse Preise nominiert, darunter der Preis der Leipziger Buchmesse, und wurde im Feuilleton breit rezipiert – ein seltener Fall literarisch-intellektueller Dichte in Zeiten marktgängiger Plotfixierung.
Was Schalanskys Werk insbesondere auszeichnet, ist sein Widerstand gegen die vorherrschende Erzählweise unserer Zeit: Statt linearer Dramaturgie bietet sie Fragmentierung, statt Identifikationsfiguren – Irritation. In dieser Hinsicht lassen sich intertextuelle Bezüge zu W.G. Sebalds narrative Requiem-Literatur herstellen, insbesondere in seiner Behandlung von Verlust und Erinnerung durch sprachlich motivierte Entfaltung. Auch die französische Schule der Essayistik, verkörpert durch Schriftsteller wie Georges Perec, scheint durch: Wie in Perecs „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“, wird auch hier durch scheinbar periphere Beobachtungen ein größeres Ganzes evoziert.
Doch bleibt Schalansky nicht dem rein nostalgischen Sog verhaftet. Ihre Reflexionen münden vielmehr in eine erkenntnistheoretische Unruhe: Kann etwas verlorengehen, was im Geist weiterlebt? Ist die Erinnerung ein Besitz oder ein Fluch? Derart tiefer greift der metaphysische Gehalt dieses Buches, das trotz seines dokumentarischen Gestus nie in faktische Objektivität verfällt, sondern die Poetisierung der Welt als einzig legitimen erkenntnistheoretischen Modus des Subjekts vorschlägt.
Gleichwohl sind nicht alle Aspekte des Werks gänzlich unproblematisch. Die hochgradige Intellektualisierung kann für weniger geschulte Leser eine Barriere darstellen; die hermetische Struktur der Kapitel verweigert intendiert jeden direkten Zugang, was mitunter den Eindruck von Selbstbezüglichkeit oder sogar ästhetischer Eitelkeit hinterlässt. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern das bewusst Intertextuelle hier dem Originalitätsanspruch zuträglich ist. Während der bewusste Rückgriff auf dokumentarische Formen als literarische Strategie überzeugend erscheint, ist es doch zuweilen schwer, zwischen Subversion und Ästhetizismus zu unterscheiden. Dient die Fiktionalisierung des Verlusts einer tatsächlich tieferen Wahrheit, oder ist sie rhetorisches Kalkül? Dies bleibt unbeantwortet – was gewiss der Absicht der Autorin entspricht, jedoch nicht zwingend als Stärke gelten muss.
Nichtsdestotrotz öffnet das Buch einen beachtlichen gedanklichen Horizont. Indem es eine Bibliothek des Verlorenen entwirft, schreibt es sich in eine der ältesten Aufgaben des Menschen ein: das Erinnern als Widerstand gegen das Nichts. Die postulierte Trauerarbeit ist kein bloßes Pathos, sondern vielmehr Philosophie in narrativer Form – ein Versuch, mittels Literatur jene Gravitation des Seins zu thematisieren, die alles stets in Auflösung zu versetzen droht. In einem Zeitalter, das den Verlust meist nur als Defizit begreift, zeigt Schalansky die poetische Potenz des Verlorenen auf: „Ein Ding geht verloren, und die Welt wird dichter, nicht leerer.“ Dieser umgekehrte Zusammenhang ist der Urgedanke tragischer Philosophie2.
„Verzeichnis einiger Verluste“ ist in diesem Sinne nicht nur ein literarisches Werk, sondern ein ontologisches Manifest. Es fordert den Leser auf, die Relikte des Vergehens nicht als Trümmer, sondern als Spuren eines Zusammenhangs zu lesen, der sich unserer empirischen Zugriffsmöglichkeit entzieht. Es erzählt nicht linear, es sedimentiert. Es enthüllt nicht die Vergangenheit, es beschriftet ihre Schatten. Und indem es dies tut, bietet es eine neue Form der geistigen Begegnung mit der Welt – eine Form, die uns an unsere epistemologischen Grenzen erinnert, ohne den Trost der Imagination aufzugeben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schalanskys Werk als ein bedeutender Beitrag zum zeitgenössischen deutschsprachigen Literaturdiskurs zu betrachten ist. Es widersetzt sich mit aristokratischer Eleganz dem populären Erzählimperativ und demonstriert den Wert literarischer Meditation im Angesicht des Verlusts. Die poetische Geste, die hierin aufscheint, ist eine Geste des Widerstands – nicht gegen das Vergessen allein, sondern gegen die Siedlungslosigkeit des Gedächtnisses in spätmodernen Zeiten. In dieser Hinsicht wird „Verzeichnis einiger Verluste“ sich als ein Werk erweisen, dessen Nachglanz nicht leicht zu tilgen sein wird.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, melancholia, memory
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1 Vgl. FAZ vom 5. März 2020, Literaturbeilage: „Ein Archiv des Verschwindens – Judith Schalansky und die Poesie des Fehlens“
2 Siehe hierzu auch Nietzsche, F. „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, wo der Autor das Erinnern als eine Form der Aktualisierung des Geistes versteht.