Giorgio Colli und die Philosophie der Initiation
Die Philosophiegeschichte wird gemeinhin als ein ununterbrochener Diskurs von Auseinandersetzungen, Fortschritten und Widerlegungen verstanden; sie zeichnet sich durch ihre Methodik der rationalen Klarheit, argumentative Kohärenz und diskursive Transparenz aus. Doch mit Giorgio Colli (1917–1979), einem der rätselhaftesten italienischen Denker des 20. Jahrhunderts, eröffnet sich ein Zugang zur Philosophie, der von Mysterien, esoterischen Ursprüngen und der Idee einer verborgenen Weisheit durchdrungen ist. Colli war nicht nur ein brillanter Übersetzer antiker Texte, insbesondere der Schriften des Heraklit und der vorsokratischen Philosophen, sondern auch eine eigenständige Stimme, die an der Schwelle zwischen rationaler Spekulation und initiatischer Offenbarung verweilte. In einer Zeit, da Philosophie sich zunehmend der analytischen Klarheit und der politischen Relevanz verschrieb, suchte Colli nach jenen Tiefenschichten des Denkens, die nur dem Eingeweihten – dem durch Erfahrung und Askese Geprüften – zugänglich seien.
Giorgio Colli wurde 1917 in Turin geboren, jener Stadt, die lange als das intellektuelle Herz Italiens galt, durchzogen vom Geist der Mathematik, der Literatur und der Metaphysik. Früh beschäftigte sich Colli mit der klassischen Philologie; eine Beschäftigung, die ihn zur Herausgabe und Kommentierung der ersten vollständigen Ausgabe der Werke Friedrich Nietzsches zusammen mit Mazzino Montinari führte. Doch während Montinari und viele ihrer Zeitgenossen Nietzsche als einen kritischen Denker der Moderne interpretierten, erkannte Colli in Nietzsches Werk ein Echo tief archaischer Weisheiten. In dem Nietzsche’schen „Unzeitgemäßen“ – so Colli – offenbaren sich die Spuren des „Philosophen der Initiation“, der Wahrheit nicht als objektive Kategorie, sondern als mystisches Erleben begreift.
Im Zentrum von Collis Denken steht die Idee der „ursprünglichen Philosophie“, einer Philosophie, die ihren Ursprung nicht in der rationalen Klarheit der sokratischen Methode oder gar im aristotelischen Systemdenken hat, sondern in der Wortlosigkeit der Mysterien, in der ekstatischen Erfahrung des Sehers, des Schamanen, des Auserwählten. In seinem Hauptwerk „La nascita della filosofia“ („Die Geburt der Philosophie“) argumentiert Colli überzeugend, dass die Philosophie in Griechenland nicht als rationale Neukonstruktion des Wissens entstand, sondern als „Verfall“ eines ursprünglichen Wissens, das sich in Mythen, in Orakeln, in visionären Sätzen offenbarte. „Der Gedanke“, schreibt Colli, „war einst ein stummer Blick ins Unsagbare. Die Philosophie, wie wir sie kennen, ist der Schatten jener ersten Schau.“1
Hier scheiden sich die Geister: Ist Colli ein Romantiker der Mysterien? Ein moderner Platoniker, der im Anderen Ort – jenem der Ideen und Urbilder – die eigentliche Wahrheit verortet? Oder ist er gar ein Kritiker der Moderne, der das Verhältnis von Logos und Mythos neu bestimmen will? Innerhalb der italienischen philosophischen Landschaft stand Colli lange isoliert: Zu rätselhaft seine Sprache, zu aristokratisch sein Wahrheitsbegriff, zu feinsinnig seine philologischen Exkurse. Doch rückblickend lässt sich sagen: Colli betritt einen Raum, den nur wenige wagten – eine Philosophie der Initiation, in der das Wissen nicht kommuniziert, sondern erfahren wird.
Seine Auslegung der vorsokratischen Denker zeigt uns auf verblüffende Weise, dass Philosophie ursprünglich als „Erweckung“ gedacht war, nicht als Argumentation. Heraklits Dunkelheit etwa – jener berühmte Stil der Aphorismen – ist für Colli kein intellektuelles Defizit, kein hermeneutisches Rätsel zu lösen, sondern ein absichtsvoller Hinweis auf die initiatische Funktion von Sprache: eine Sprache, die mitreißt, verwandelt, erschüttert. Wahrheit wird hier nicht erkannt, sondern erlitten.
„Der Philosoph als Initiator“ – diese Idee zieht sich durch Collis gesamtes Werk. In seinem posthum erschienenen Fragmentband „La ragione errabonda“ („Die irrende Vernunft“) betont Colli, dass wahre Erkenntnis nicht aus einem Prozess diskursiver Wahrheitssuche resultiert, sondern aus einem Erzittern der Vernunft selbst: „Die Vernunft selbst muss sich verirren, um das Wahre zu erschauen.“ 2 Die Irrfahrt des Geistes – das labyrinthische Umherirren der Wahrnehmung durch Symbole, Bilder und sprachlose Ekstasen – wird hier zur Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis.
Historisch verortet sich Collis Arbeit in einer Zeit, in der die kontinentale Philosophie in der Krise war – nach den Katastrophen zweier Weltkriege, dem moralischen Schiffbruch des Nationalsozialismus, der existentiellen Frage nach Sinn in einer entgötterten Welt. Während Heideggers „Sein-zum-Tode“ seine Schüler zur Fundamentalontologie führte und Foucault den Humanismus dekonstruiert, schaut Colli zurück auf eine Zeit, in der „Philosophieren“ noch ein spiritueller Akt war – ein inneres Feuer, eine Transformation des Seins.
Die Relevanz von Collis Ideen für die Gegenwart offenbart sich in dem zunehmenden Unbehagen vieler Philosophen mit dem Philosophieren als rein akademischem Gestus. In einem Zeitalter der permanenten Simulation, in dem die Philosophie zunehmend zur Dekoration universitärer Veranstaltungen degradiert wird, weist Colli auf die metaphysische Tiefe des Denkens hin. Seine Botschaft: Philosophie muss wieder gefährlich werden, transgressiv, initiatorisch – nicht durch ihre Systematik, sondern durch ihre Unverfügbarkeit.
Einige zeitgenössische Denker, wie Peter Kingsley oder Georges Didi-Huberman, knüpfen implizit an Collis Erbe an. Kingsley etwa interpretiert Parmenides als Schamanen eines untergegangenen Weisheitswegs und liest die Philosophie der Vorsokratiker als Fortsetzung orphischer Praxis. Ähnlich deutet Didi-Huberman visuelle Räume der Erkenntnis, wie sie sich in der Kunst oder im Traumbild auftun, als Wege „jenseits“ des logisch Kategorisierbaren.3 Auch Michel Foucaults späte Sorge um die „Techniken des Selbst“ lässt sich in Nachbarschaft zu Collis initiatorischer Philosophie lesen – als Suche nach einem Weg der Wahrheit, der nicht bloß kritisch, sondern formativ ist.
Gleichwohl bleibt Colli nicht ohne Kritiker. Vor allem analytisch geschulte Philosophen werfen ihm eine Rückkehr zur „unhistorischen Metaphysik“ vor, eine Art esoterischer Mystifizierung vorsokratischen Denkens. Der Verdacht eines elitären Philosophiebegriffs – Wahrheit nur für jene, die „berufen“ sind – steht latent im Raum. In der Tat: Colli glaubte nicht an die Universalität philosophischer Erfahrung. Für ihn sind Wahrheit und Philosophie immer exklusiv, ein Weg, der mehr verlangt als Intellekt: Mut, Askese, Ergriffenheit.
So bleibt Giorgio Colli eine Ausnahmegestalt – ein Philosoph der Schwelle, ein Sammler verschütteter Wahrheiten, ein Interpret der Stille vor der Sprache. Sein Projekt war nichts weniger als eine Rückführung der Philosophie zu ihren mystischen Ursprüngen, zu jenem Punkt, an dem Denken noch Ekstase war, Sprache noch Mythos, Erkenntnis noch Initiation.
In einer Welt, die sich in der Hypertransparenz ihrer Diskurse zu verlieren droht, winkt Collis Denken wie ein Schatten aus einer anderen Dimension. Und vielleicht ist es gerade dieser Schatten, der uns erinnert: Wahres Denken beginnt dort, wo die Sprache versagt – im Verstummen vor dem Numinosen.
1 Colli, Giorgio: «La nascita della filosofia», Milano: Adelphi, 1975, S. 14.
2 Colli, Giorgio: «La ragione errabonda», Milano: Adelphi, 1982, S. 93.
3 Didi-Huberman, Georges: «Devant le temps», Paris: Minuit, 2000.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, ancient wisdom, metaphysics, initiation, heresy, shadows