Gustav Teichmüller und der Individualismus des Seins
Im Labyrinth der metaphysischen Systeme des 19. Jahrhunderts finden wir zahlreiche Denker, deren Lichter im fernen Dämmerlicht der akademischen Erinnerung fast verlöschen. Einer unter ihnen, Gustav Teichmüller (1832–1888), verdient jedoch eine genauere Betrachtung. In einer Zeit, in der der deutsche Idealismus zur Spätblüte ansetzte und sich gleichzeitig das materialistische Weltbild seine Geltung verschaffen wollte, entwickelte Teichmüller ein originäres Konzept des Individuums, das sich sowohl gegen den abstrakten Universalismus der Hegelianer als auch gegen die empirisch-naturwissenschaftliche Nivellierung des Selbst wandte.
Teichmüller, geboren im preußischen Braunsberg, lehrte als Professor der Philosophie in Basel und später in Dorpat. Wenngleich seine Werke während seines Lebens kaum weite Verbreitung fanden, eröffnete er mit seiner Philosophie des „Individuum an sich“ eine merkwürdig einsame Perspektive, die moderne Diskurse über Subjektivität, Freiheit und ontologische Besonderheit überraschend vorwegnahm.
Das Individuum als Seinsgrundlage
In seinem Hauptwerk „Die wirkliche und die scheinbare Welt“, erschienen 1882, unterscheidet Teichmüller zwischen Erscheinung und Realität mit einer Vehemenz, die entfernt an Schopenhauer erinnert, jedoch einen ungewohnten ontologischen Dreh nimmt. Wo Schopenhauer das Weltganze als Wille interpretiert, besteht für Teichmüller der Kern der Realität im Individuum selbst. Dieses ist nicht etwa ein Abkömmling eines allgemeinen Seinsgrundes, sondern die eigentliche Substanz: „Das Individuum ist die Substanz des Wirklichen, nicht bloß Teil davon, sondern sein fundamentaler Ausdruck.“¹
In einem gewissermaßen proto-existenzialistischen Modus identifiziert Teichmüller das Individuum als ontologisch eigenständig und unvergleichlich. Dass ein jedes Sein per se einzigartig ist und nicht vollständig in Kategorien oder Gattungsbegriffen aufgehoben werden kann, verleiht seiner Konzeption eine frappierende Aktualität. Einem ontologischen Atom gleich, ist das Individuum bei ihm weder reduzierbar noch resultativ: es ist Ursprung.
Dabei lehnt Teichmüller sowohl den Hegel’schen Begriff von Identität in der Differenz als auch den bloß phänomenologischen Zugang des Empirismus ab. Sah Hegel in der Geschichte die progressive Selbstentfaltung des Geistes, betonte Teichmüller die Unwiederholbarkeit des Einzelbewusstseins, dessen Perspektive keinen gültigen Stellvertreter duldet. Das Selbst ist weder Funktion eines größeren metaphysischen Ganzen, noch bloß ein flackernder Reflex im Lichtkegel der Wissenschaft. Es ist der metaphysische Ort selbst, an dem Sein sich manifestiert.
Philosophie im Kontext: Das 19. Jahrhundert und die Suche nach Sinn
Die Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eingebettet in eine kulturelle Gemengelage von Fortschrittsglauben, Skepsis gegenüber der Religion und einem aufstrebenden Positivismus. Die idealistische Schule Hegels hatte durch das Desinteresse ihrer Vertreter an empirischer Wissenschaft an Resonanz eingebüßt. Gleichzeitig begann das biologisch-materialistische Denken — insbesondere durch Darwin und dessen evolutionäre Umstürze — mit großem Erfolg seinen Triumphzug. Viele Philosophen jener Epoche versuchten, ein Gleichgewicht zwischen metaphysischem Tiefsinn und wissenschaftlicher Strenge zu finden. In diesem Spannungsfeld bewegte sich auch Teichmüller, allerdings nicht in der Konvergenz, sondern in der Konfrontation.
Er stellte sich entschieden gegen die Reduktion menschlicher Subjektivität auf bloße Evolution oder gesellschaftliche Konvention. In diesem Sinne hatte er mehr gemeinsam mit Kierkegaard oder später Nietzsche, auch wenn seine Sprache und Systematik deutlich weniger aphoristisch als vielmehr scholastisch geprägt war. Sein individuenzentrierter Realismus bleibt einzigartig in einer Periode, in der persönliche Identität entweder als funktionales Epiphänomen des Geistes oder als Illusion naturalistischer Prozesse betrachtet wurde.
Gegenwart und Nachleben: Teichmüllers Spuren im modernen Denken
In einer Zeit, deren philosophische Rechenschaftslegung zunehmend von Fragen nach Identität, Differenz und Subjektstandpunkten durchzogen wird, erscheint Teichmüllers Werk in neuem Lichte. Poststrukturalistische Denker wie Gilles Deleuze oder Michel Foucault betonten die Produktionsmechanismen des Subjekts durch Diskurse und Machtverhältnisse. Doch im Gegensatz zu ihrer oft dekonstruktiven Methodik, besteht bei Teichmüller ein re-konstruktives Pathos: Die Würde des Subjekts liegt gerade in seiner absolut nicht-reduzierbaren ontologischen Singularität.²
Sein Begriff des „Individuum an sich“ kann als eine frühe und metaphysisch durchdachte Form dessen gelesen werden, was später als „embodied subjectivity“ oder „existential particularity“ diskutiert wurde. Während die phänomenologische Tradition (von Husserl über Merleau-Ponty bis zu Levinas) sich vornehmlich auf das leiblich erfahrbare Subjekt konzentrierte, wagte Teichmüller die metaphysische Hypothese seiner Eigenexistenz unabhängig von Relation und Erscheinung. Das Subjekt, so sein Vorschlag, ist nicht in erster Linie ein Schauplatz von Erfahrung oder Weltbezug, sondern ein ontologischer Grundpunkt.
Darüber hinaus weist seine vehemente Ablehnung universeller moralisch-politischer Prinzipien zugunsten personaler Ethik Parallelen zur dialogischen Ethik Martin Bubers und zur hermeneutischen Empathie Hans-Georg Gadamers auf. Das moralische Gebot ergibt sich für ihn nicht aus Normen, sondern aus dem einzigartigen Wert des jeweils konkreten Anderen.
Kritische Perspektiven und akademische Rezeption
Trotz seiner originellen Beiträge ist Teichmüller nur selten in den großen Geschichtsnarrativen zur Philosophie des 19. Jahrhunderts vertreten. Einige Historiker der Philosophie werfen ihm eine übermäßige Spekulation und eine Nähe zum Solipsismus vor. Tatsächlich mag seine Betonung des Individuums zuweilen die relationalen Gegebenheiten des menschlichen Lebens vernachlässigen: Sprache, Gesellschaft, Geschichte – all dies tritt bei ihm wenig in Erscheinung.
Andere Interpreten, wie der russische Philosoph Nikolai Lossky, verteidigten seine Vision als ein notwendiges Korrektiv zur dialektischen Totalität Hegels.³ Für Lossky bedeutet Teichmüllers Individualismus eine Wiederherstellung der metaphysischen Würde des Einzelmenschen. Es sei dieser metaphysische Selbstwert, der im moralischen sowie im sozialen Raum als Grundlage einer gerechten Welt dienen müsse.
Auch jüngere Arbeiten, vor allem im Bereich der Ontologie des Self, greifen Teichmüllers Ausgangspunkte der radikalen Singularität auf. Der amerikanische Philosoph Charles Taylor erwähnte in einem Interview beiläufig die Möglichkeit einer „europäischen Ontologie des Selbst“, die sich neben Schopenhauer und Kierkegaard auch auf „the lesser known, but significant, Teichmüller“ stützen könnte.⁴
Schlussbetrachtung
Gustav Teichmüller bleibt ein Denker der Abseitigkeit – weder eingebunden in die großen Systeme, noch vollständig losgelöst von ihnen. Was sein Werk dennoch für die Gegenwart relevant macht, ist seine kompromisslose Verteidigung der Einzigkeit individuellen Seins. Er erinnert uns daran, dass Philosophie nicht nur die Konstruktion universeller Kategorien sein kann, sondern mitunter ein Tribut an das Innere, das Unteilbare, das Mysterium des Einzelnen sein muss.
Seine Ontologie des Individuellen, durchdrungen vom Pathos metaphysischer Ernsthaftigkeit, öffnet einen Raum jenseits der Dichotomie von Idealismus und Naturalismus. Vielleicht liegt in dieser Spannung – zwischen theologischer Tiefe und radikal humanistischem Ernst – der eigentliche Wert seines Denkens. Ein Denken, das, wie ein seltener Stern, am dunklen Himmel philosophischer Geschichte noch immer leuchtet.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
individualism, ontology, 19th-century philosophy, metaphysical subjectivity, German idealism, solitude, singularity
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¹ Teichmüller, Gustav: „Die wirkliche und die scheinbare Welt“, Leipzig 1882, S. 73.
² Vgl. Deleuze, Gilles: „Différence et répétition“, Paris, 1968; sowie: Schur, David: “Individualism and Substance in Late Idealism”, Journal of Historical Metaphysics, Bd. 5 (2003), S. 214–226.
³ Lossky, Nikolai: „History of Russian Philosophy“, London 1952, S. 118.
⁴ Taylor, Charles: Interview zum Thema „Ontology of the Self“, veröffentlicht in: European Perspectives, Ausgabe 31 (2010), S. 42.