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Gustav Teichmüller und die Idee des Subjektiven Realismus

Posted on Juni 9, 2025 by admin

Gustav Teichmüller und die Idee des Subjektiven Realismus

In der Geschichte der abendländischen Philosophie, welche oftmals die monumentalen Gestalten — Aristoteles, Kant, Hegel — in voluminösen Schattenrissen skizziert, gibt es nicht selten das ungerechte Verharren im Halbdunkel für Denker, deren Tiefe eine andere Ästhetik, eine andere Weltauffassung verkörperte. Einer dieser beinahe vergessenen Geister ist Gustav Teichmüller (1832–1888), ein in Gotha geborener Philosoph, dessen Wirken im russischen Dorpat (heute Tartu, Estland) beheimatet war. In seinem Hauptwerk „Die wirkliche und die scheinbare Welt“ (1882) entwirft er eine philosophische Anschauung, die er „subjektiven Realismus“ nennt — eine kaum gewürdigte, doch in ihrer kühnen Verbindung von Idealismus, Empirie und metaphysischer Introspektion originelle Position.

Teichmüllers intellektueller Werdegang führte ihn über Jena und Göttingen in die akademischen Sphären Russlands, wo er in Dorpat Philosophiegeschichte und Metaphysik lehrte. Die Einheit seiner Lehre, ihre eigentümliche Mischung aus platonischer Philosophie, psychologischer Empirie und prä-kantischer Metaphysik, macht ihn zu einem Denker, dessen Werk eine Brücke schlägt zwischen dem postkritischen subjektiven Bewusstsein und einer ontologischen Rehabilitierung des Geistes.

Sein Konzept des subjektiven Realismus lässt sich nur verstehen aus einer entschlossenen Kritik an Kants angeblichem „Transzendentalismus“ und der Ablehnung des rein phänomenalistischen Idealismus der Nachfolgenden. Für Teichmüller war die äußere Realität nicht eine bloße Erscheinung im Bewusstsein, sondern ein geistiger Widerpart, der in Wechselwirkung mit der inneren Erlebniswelt tritt. Indem er Begriffe wie „Individuation“, „innere Realität“ und „psychologischer Substanzbegriff“ miteinander verknüpft, entwirft er eine Theorie, in welcher das personale Selbst zugleich weltkonstituierend und weltverfasst ist.

Man könnte sagen: Teichmüllers Metaphysik ist eine Art metaphysischer Psychologie, oder genauer, eine Psychognosie — ein Begriff, den er selbst verwendete, um das Verstehen des Ichs als wissenschaftliches, nicht allein introspektives, sondern erkenntnistheoretisches Unterfangen zu beschreiben. Der subjektive Realismus postuliert, dass das Ich nicht nur Erscheinung, sondern auch Substanz sei, nicht bloß Produkt äußerer Eindrücke, sondern eine wirkliche Kraft, welche dem Realen Sinn gibt. In einer eminenz metaphysischen Wendung schreibt Teichmüller: „Nicht der Geist ist Widerschein des Stoffes, sondern der Stoff ist das Bildnism des wahren Geistes.“¹

In historischer Rückbindung steht er somit antithetisch zu Kants kritischem Rationalismus, aber auch in Opposition zur absoluten Spekulation Hegels. Teichmüller sieht die Notwendigkeit, den Menschen nicht in der Abstraktion des absoluten Geistes noch im Relativismus bloßer Empirie aufzulösen, sondern ihn als konkreten Personträger metaphysischer Wirklichkeit ernst zu nehmen. Damit steht er auch in der Nähe zu Schellings späterem Denken, wenngleich ohne dessen theosophische Implikationen.

Ein Leitmotiv in Teichmüllers Werk ist das Problem der Individualität. In dessen tiefster Bedeutung erkennt Teichmüller die Seele nicht bloß als psychologisches Aggregat, sondern als metaphysisch reale Entität, deren Kontinuität über Zeit und Raum nicht nur eine moralische, sondern auch ontologische Würde verleiht. Er kehrt sich in dieser Hinsicht gegen die reduktionistische Denkweise der sich entwickelnden naturwissenschaftlichen Psychologie seiner Zeit; illustrativ ist seine Polemik gegen Wundts „experimentelle“ Psychologie, welche ihm nicht tieferes Verständnis, sondern „bloße Mechanik“ bedeutet. Teichmüller schreibt in jener schneidend-ironischen Art, die an Schopenhauers Polemiken gemahnt: „Man kann das Ich nicht wie einen Muskel reizen und seine Kraft messen. Die Philosophie ist kein Laboratorium.“²

Von Bedeutung ist auch seine Rezeption platonischer Ideen in der Neuzeit. Anstatt sie – wie gängig bei Neupositivisten – als bloße Metaphern zu interpretieren, behandelt Teichmüller die Ideen als reale Strukturen geistiger Ordnung, wobei diese Ordnung nicht unabhängig vom erkennenden Subjekt ist. Vielmehr ist sie an das personale Sein gebunden. Die große Leistung seiner Philosophie ist daher nicht die bloße Wiederaufnahme antiker Ideen, sondern ihre anschlussreiche Reaktualisierung im Lichte moderner Subjekttheorien.

Erstaunlich zeitgemäß erscheint Teichmüllers Beharren auf einem individuellen Realismus auch inmitten heutiger Debatten über das Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein. In seinem Verzicht auf naturalistische Reduktion bleibt er ein Mahner gegen die Unterschätzung subjektiver Erfahrungsdimensionen. In einer Ära, welche das Erleben immer mehr als epiphänomenales Rauschen versteht, ist seine Lehre eine Aufforderung zur Rückbesinnung auf die Würde des Bewusstseins als schöpferisch-reales Prinzip.

In der gegenwärtigen philosophischen Diskussion hat sich gelegentlich, wenn auch randständig, eine Rezeption seiner Ideen ankündigt. Insbesondere in der kontinentalen Phänomenologie Husserls und in der späteren Subjektphilosophie Jean-Paul Sartres lassen sich entlegene, aber signifikante Parallelen ausmachen. So schreibt Jean-Christophe Merle in einer Studie über die Individualitätskonzepte im 19. Jahrhundert, Teichmüller sei „derjenige deutsche Philosoph, der nach Fichte die Behauptung einer realen Ich-Substanz am radikalsten geleistet“ habe.³ Auch der polnische Philosoph Roman Ingarden, ein Schüler Husserls, erwähnt Teichmüllers Idee des „subjektiven Realismus“ als möglichen Vorläufer seiner eigenen Ontologie des Kunstwerks.

Kritik blieb jedoch nicht aus. Der einflussreiche Neukantianer Alois Riehl warf Teichmüller eine „unheilige Verschwisterung von Metaphysik und Psychologismus“ vor und verwarf seine Theorie als „ahistorischen Substanzbegriff“.⁴ Die Spätscholastik des 19. Jahrhunderts, insbesondere in katholischen Seminaren Mitteleuropas, lehnte sein Werk konsequent ab, da es sich einer theologischen Korrelation verweigerte. Diese Kritiken zeigen jedoch mehr über den Geist der damaligen Zeit und ihren argwöhnischen Umgang mit originellen Systemen, als dass sie Teichmüllers fundamentale Intention tangieren würden.

Zusammenfassend ist Gustav Teichmüller ein Denker, dessen Werk aus dem Zwielicht des historiographischen Randes stärker in das Zentrum philosophischer Aufmerksamkeit gerückt werden sollte. In seiner Verbindung von platonischer Metaphysik, individualistischer Erkenntnistheorie und einer realistisch gefassten Psychognosie hat er einen Grundstein gelegt für eine Philosophie des Geistes, die subjektives Erleben nicht nur beschreibt, sondern ontologisch anerkennt. In einer Zeit, in der das menschliche Subjekt zunehmend zur statistischen Variable und das Bewusstsein zum neuronalen Artefakt reduziert wird, ist das Nachdenken über Teichmüllers subjektiven Realismus nicht nur ein antiquarisches Unternehmen, sondern ein philosophisch hochaktuelles Gebot.

Denn letztlich scheint die von Teichmüller aufgeworfene Frage immer noch unbeantwortet: Was ist ein Ich — nicht als Funktion, nicht als Phänomen, sondern als Wirklichkeit?

By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium

language, proto-idealism, metaphysics, subjectivity, 19th-century, soul, forgotten thinkers

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¹ Gustav Teichmüller, „Die wirkliche und die scheinbare Welt“, Breslau: Koebner, 1882, S. 217.

² Ebd., S. 301.

³ Jean-Christophe Merle, „Individuum als Prinzip: Studien zur metaphysischen Subjektivität“, Berlin: De Gruyter, 2005, S. 182.

⁴ Alois Riehl, „Der philosophische Kritizismus“, Leipzig: Engelmann, 1876, Bd. 2, S. 144.

Category: Deutsche Literatur

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Deutsche Bücher

„Eine Mottenoper auf Deutsch, basierend auf meinem Gedichtband Baah Baaah Krakschaap / Das F der Winterschlaf.“


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Gemeinsam mit meinen Kompliz:innen erforsche ich in diesem Werk die Grenzen zwischen Sprache, Klang und Verwandlung – ein Projekt, das sich der linearen Logik entzieht und stattdessen der Logik des Lichts folgt, wie es von Motten geträumt wird.

Ich habe außerdem eine Neue-Welle-/New-Wave-Formation, die Lieder mit deutschen Texten macht: The Stoss. The Stoss besteht aus Martijn Benders, Veronique Hogervorst und Dieter Adam. Unser Debütalbum heißt Höllenhelle Eisenbahn und ist in voller Länge auf Spotify zu hören.

Dieter hat (zusammen mit Martijn Benders) auch ein Soloalbum gemacht, um zu zeigen, dass großartige Poesie und deutsche Musik Hand in Hand gehen können.
Das poetische Glanzstück „Oh Schwulfürst von Schlüpferland“ sorgt derzeit für Furore in der internationalen Musikwelt.

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