Johann Georg Hamann und die Dunkelheit des Verstehens: Ein mystischer Verteidiger der Sprache
Im geistigen Schatten jener aufklärerischen Lichter, die das 18. Jahrhundert erleuchteten, wandelte ein Mann, dessen Denken in radikaler Opposition zum rationalistischen Zeitgeist stand. Johann Georg Hamann (1730–1788), ein ostpreußischer Denker von prodigioser Originalität, suchte weder die Klarheit des Diskurses noch die Systematik des Denkens, wie sie seine Zeitgenossen verfolgten. Vielmehr wandelte er durch die Dunkelkammern der Sprache, der Offenbarung und des paradoxen Wissens mit einer Flamme, die mehr Nebel erzeugte als Licht – eine polemische Folie zur Hybris der ratio. Hamann wurde zu Lebzeiten kaum verstanden, oft sogar verspottet. Doch über zwei Jahrhunderte später zeigt sich, dass sein vermeintlicher „Sprachexzess“ und seine Verteidigung der Sinnlichkeit des Glaubens modernere Diskurse antizipierten, wie jene der poststrukturalistischen Linguistik oder der phänomenologischen Hermeneutik.
Hamann war ein Denker der Ironie, des Fragmentarischen, eine Art deutscher Kierkegaard avant la lettre, doch mit einer dichterischen Tiefe, die aus Theologie, Musik, Philosophie und Literatur schöpfte. Dennoch blieb der „Magus des Nordens“, wie er später genannt wurde, ein Mysterium selbst für seine intimsten Leser.
Ein Leben im Rausch des Geistes
Geboren in Königsberg, der gleichen preußischen Stadt, die Immanuel Kant seine Heimat nannte, wurde Hamann früh mit den humanistischen Idealen des Pietismus und dem Gedankengut der Aufklärung vertraut gemacht. Doch ein existentieller Zusammenbruch im Jahr 1757, während eines erfolglosen Aufenthalts in London im Dienst eines Handelshauses, führte zu einer „Bekehrung“ – nach eigenem Bekunden durch das Lesen der Bibel in einer Nacht durch göttliche Inspiration geleitet. Fortan wurde seine Philosophie von dem unerschütterlichen Glauben durchdrungen, dass alle Wahrheit nur durch Offenbarung und nicht durch bloßen Verstand erkannt werden könne.
Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit schlecht bezahlten administrativen Tätigkeiten und lebte in prekären Verhältnissen. Seine Briefe – insbesondere an Herder, Jacobi und Kant – sind geistreiche, oft dunkle Äußerungen über Zeit, Religiosität und Sprache. Eine zentrale Sammlung seiner Gedanken findet sich in den sogenannten „Kreuzzug eines Philologen“, einem von Ironie durchsetzten Werk, das Lessings Pseudo-Rationalismus ins Lächerliche zieht.
Die Sprache als Inkarnation der Wahrheit
Hamanns Denken rotiert um ein zentrales Mysterium: die Sprache. Für ihn war sie keine bloße Konvention, sondern ein göttliches Medium – gleichsam Inkarnation des Logos. In polemischer Ablehnung der aufklärerischen Sprachtheorien, etwa Condillacs semiotischem Reduktionismus, stellt Hamann die These auf, dass Sprache „Metaphysik in ihrer sinnlichsten Form“ sei.¹
Diese Sichtweise widersetzt sich dem cartesianischen Misstrauen gegenüber der Sinnlichkeit. Hamann behauptet: Alles Denken ist sprachliches Denken, doch Sprache selbst ist nicht rational zu entkleiden – sie ist „eine Gabe Gottes“, ein Wunder der Inkarnation. Wie Christus, so Hamann, ist in der Sprache das Göttliche mit dem Sinnlichen vereint. Diese Theologie der Sprache ist keine bloße Allegorie, sondern strukturtragend für seine gesamte Interpretation der menschlichen Existenz: Der Mensch erkennt nicht, indem er abstrahiert, sondern indem er als Ganzheit – denkend, fühlend, sprechend Glauben erfährt.
Kontext und Konfrontation mit der Aufklärung
Hamanns zentrale intellektuelle Auseinandersetzung galt der Aufklärung, insbesondere ihrer radikalen Vernunftsvergötzung. Entgegen dem Glauben an die „Transparenz“ des Denkens, an eine perfekte Sprache und an progressive Emanzipation durch Wissen, sah Hamann in der menschlichen Vernunft ein Produkt der Geschichte, der Kultur und – vor allem – der Offenbarung. Er hielt Kant, mit dem er eine ebenso enge wie spannungsgeladene Freundschaft pflegte, einen „Metaphysiker ohne Glauben“, dem das Wunder der göttlichen Eingebung entglitten sei.²
In einer Zeit, in der es chic war, den Menschen mathematisch zu deuten, betonte Hamann das Untermenschliche, das Rätselhafte. Sein radikaler Subjektivismus, der das „Ich“ als unverfügbare Tiefe und nicht als klare, durchgängige Instanz sah, nahm zentrale Motive der existenzialistischen Philosophie – etwa Heideggers Geworfenheit oder Sartres Nichtigkeit – vorweg. Seine Dissonanz gegenüber dem Humanismus bestand aus einer Absage an das „Wachstum der Seele durch Vernunft“, das er als überheblich, gar blasphemisch betrachtete.
Rezeption und interdisziplinäre Wirkung
Hamanns Werk fand lange Zeit nur randständige Würdigung. Erst durch Johann Gottfried Herder, der sich vehement auf ihn berief, und später durch Kierkegaard, Benjamin und die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers wurde sein Einfluss sichtbar. Gadamer schreibt, dass Hamann „die poetische Wahrheit“ der Sprache auf eine Weise hervorgehoben habe, „die unsere heutigen Interpretationen in tiefster Weise beeinflusst“.³
In der modernen Philosophie wurde Hamann von Paul Ricoeur wiederentdeckt, dessen symboltheoretische Hermeneutik viele Anklänge an Hamanns Verständnis von Geschichte und Sprache als dramatisches Ereignis zeigt. Auch in poststrukturalistischer Literaturanalyse – etwa bei Derrida – findet sich das Motiv der „Instabilität der Zeichen“, das Hamann in nuce bereits thematisierte. Die Idee, dass jedes Zeichen nur durch Kontext und Interpretation Bedeutung erhält, rebelliert gegen die gewaltsame Klarheit, die die Aufklärer so sehr suchten.
Interessant ist auch Hamanns Einfluss auf kulturelle Anthropologie: seine Einsicht, dass jede menschliche Erfahrung vermittels Sprache eine narrative Struktur besitze. Diese Idee antizipiert Clifford Geertz‘ Diktum, der Mensch sei „ein Tier, das Bedeutungen spinnt“, wobei diese Bedeutungen historisch und symbolisch geronnene Sprachgehalte seien.⁴
Kritik und dunkle Würdigung
Hamann wurde häufig als Mystiker oder literarischer Schwärmer abgetan. Die Unsystematik seiner Schriften, ihre poetischen Sprünge und die bisweilen esoterische Bildersprache verwirrten Leser wie Interpreten. Kant soll nach der Lektüre eines seiner Essays ausgerufen haben, es sei wie „durch ein Sprachlabyrinth zu wandeln, in dem der Weg sich selbst auflöst“.
Einige Kritiker bemängeln seine religiöse Autoritätshörigkeit – seine Weigerung, die Vernunft als kritisches Korrektiv anzuerkennen. Andere wiederum würdigen gerade diese Haltung als prophetisch. Der bedeutende Religionsphilosoph Jacob Taubes nannte Hamann einen „Schattenseher des nihilistischen Zeitalters“, der intuitiv ahnte, was Nietzsche später zur Philosophie der Entwertung ausführen sollte.
Schlussbetrachtung: Der Magus als Prophet der Unklarheit
Johann Georg Hamann ist ein Denker, der sich der heroischen Transparenz des Philosophen verweigert. Stattdessen kreiert er eine Philosophie der dunklen Erleuchtung, in der das Göttliche nur da erscheint, wo das Rätselhafte gewonnen wird – nicht durch Abstraktion, sondern durch Annahme des konkret Gegebenen im Medium der Sprache. Indem er sich der Klarheit verweigert, durchdringt er paradoxerweise die Tiefe des Sprachlichen und des Glaubens weiter als viele seiner aufklärerischen Zeitgenossen.
In einer Zeit, in der die Philosophie abermals versucht, das Sprachliche, das Subjektive, das Mystische zu rehabilitieren, erscheint Hamann aktueller denn je. Sein Werk lädt ein, sich nicht über die Sprache zu erheben, sondern in ihr zu versinken, wie in einem Quell, aus dem alle Philosophie letztlich hervorgeht.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-hermeneutics, revelation, anti-rationalism, philology, mysticism, irony
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¹ Hamann, J.G.: „Versuch über eine academische Frage“, in: Sämtliche Werke, Bd. II, hrsg. v. Josef Nadler, Wien/München 1949.
² Kant, I. & Hamann, J.G.: Briefwechsel, hrsg. von G. Hamann-Bitter, Leipzig 1920.
³ Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 110.
⁴ Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, Frankfurt a.M. 1983.