Susanna Newcome und die Rationalität des Gottesbeweises: Eine rekonstruierte Betrachtung
Im Schatten der großen metaphysischen Systeme des 18. Jahrhunderts, die die Namen Spinoza, Leibniz und Kant unauslöschlich trugen, findet sich ein kaum beachteter Stern auf der Karte der britischen Aufklärung — Susanna Newcome (1685–1763), eine anglikanische Denkerin, deren Werk durch eine rationale Apologetik glänzte, die sich weder der Mystik noch dem Dogma beugte. Ihr Hauptwerk „An Enquiry into the Evidence of the Christian Religion“ (1728) ist ein philosophischer Versuch, die Vernünftigkeit religiöser Überzeugung im Zeitalter zunehmend empirisch-naturwissenschaftlicher Welterklärung zu verteidigen. Ihre Argumentationsweise ist ein bemerkenswertes Dokument rationalistischer Philosophie in einem theologischen Kontext und verdient, nicht bloß als Anhang rationaler Theologie, sondern als eigenständiger philosophischer Diskurs gewürdigt zu werden.
Biographische Skizze einer intellektuellen Grenzgängerin
Susanna Newcome wurde in eine wohlhabende und bildungsnahe Familie im südlichen England geboren, zur Zeit der Nachwirkungen der Glorious Revolution und der Etablierung protestantischer Rationalität. Obwohl es Frauen in dieser Epoche nahezu unmöglich war, formell philosophisch zu publizieren, leistete Newcome mit ihrem Werk einen kulturellen Widerstand gegen die epistemische Ausgrenzung weiblicher Vernunft. Ihr Denken ist weniger vom Konformismus des Klerus durchsetzt als von der aufklärerischen Kraft einer wohlinformierten, methodischen Analyse der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.
Ihre Nähe zu Theologen wie Samuel Clarke oder William Paley ist spürbar; doch während diese sich oft auf das teleologische Argument zurückzogen, konzentrierte sich Newcome vornehmlich auf die epistemologische Validität religiöser Erfahrung durch die Linse rationaler Evidenz. Damit war sie, implizit, eine metaphysische Gegnerin David Humes, der nur wenige Jahre nach ihr in Edinburgh seine Attacke gegen die natürlichen Theologien formte.
Die Evidenz göttlicher Rationalität: Hauptideen Newcomes
Newcomes philosophische Methode basiert auf einem dreifachen Fundament: Vernunft, Erfahrung und moralische Intuition. Ihr zentrales Anliegen ist die Beantwortung der Frage, ob die christliche Religion — entgegen dem Vorwurf irrationaler Dogmen — durch rationale Evidenzen gestützt werden könne. In einem bemerkenswert strukturierten Argument verfolgt sie, mit methodischer Ruhe, die Idee, dass religiöse Wahrheiten analog zu natürlichen Wahrheiten erkannt werden können – durch eine Form von induktiver Evidenz und moralischer Affinität.*¹*
Sie untersucht insbesondere die Historizität biblischer Berichte in Verbindung mit menschlicher Glaubwürdigkeit. Allerdings gipfelt ihre Argumentation nicht in empirischer Bestätigung, sondern in einem epistemischen Vertrauen, das auf der Kohärenz der biblischen Wahrheiten mit der moralischen Vernunft des Menschen beruht. „The Scripture“, so schreibt Newcome, „must be interpreted not merely as a source of events, but as a mirror of the rational nature of our moral judgment.“ Damit vertritt sie einen proto-kantischen Begriff religiöser Rationalität, beinahe ein Vorläufer jener moralischen Teleologie, die bei Kant später systemisch wurde.
Newcome differenziert dabei zwei Arten von Evidenz: äußere, historische Beweise — überlieferte Wunder, Prophetien — und innere, moralisch-intuitive Evidenz, die aus der Natur des menschlichen Gewissens selbst hervorgeht. Ihr Ziel ist nicht die Erfüllung der strengen Kriterien mathematischer Gewissheit, sondern die Herleitung einer „reasoned faith“, die rational gerechtfertigt, wenn auch nicht deduktiv zwingend ist.
Kontexte: Aufklärung und ihre Ambivalenzen
Um Newcomes philosophisches Unterfangen adäquat zu verstehen, muss man sie in das geistige Klima ihrer Zeit einbetten. Das frühe 18. Jahrhundert war in Großbritannien geprägt durch eine Spannung zwischen aufkommendem Deismus und den Resten einer dogmatischen Theologie. Newtons Physik hatte eine Welt vorgestellt, in der göttliches Eingreifen kaum noch nötig erschien. Der Deismus — prominent vertreten durch Toland, Shaftesbury oder Collins — propagierte eine Religion der Vernunft ohne Offenbarung, ohne Wunder, ja ohne spezifische göttliche Person.*
Newcome positionierte sich implizit gegen dieses entpersonalisierte Gottesbild, nicht in Form eines Rückfalls in althergebrachten Supranaturalismus, sondern durch Rückführung religiöser Erfahrung auf ihren epistemischen Gehalt. In dieser Hinsicht war sie gewissermaßen eine Antagonistin sowohl der deistischen Reduktion als auch der pietistischen Emotionalisierung.
Ihre Argumentation erlaubt sich keine Gnade gegenüber enthistorisierten Dogmen; zugleich verweigert sie sich der nihilistischen Konsequenz einer vollständig entzauberten Welt. Darin liegt, retrospektiv betrachtet, ihre stille Radikalität.
Moderne Relevanz: Rationalitätskonzepte und Glaubensdiskurs
Im 21. Jahrhundert erfährt die Frage nach der Rationalität von Religion eine neue Vitalität, insbesondere im Kontext von Wissenschaftstheorie und interkulturellen Dialogen. Newcomes Ansatz könnte gerade heute exemplarisch sein für eine Philosophie der Verständigung über metaphysische Differenzen.
Während Richard Swinburne — selbst ein moderner Rationalist in Fragen der Theologie — vornehmlich auf eine Wahrscheinlichkeitstheorie göttlicher Existenzaussage baut, bietet Newcome einen integrativeren Ansatz, der sowohl moralische Prinzipien als auch historische Kohärenz berücksichtigt.*²* Ihre Philosophie ließe sich als Modell für eine kritikfähige, pluralismusfreundliche Religiosität interpretieren, die erkenntnistheoretisch sensibel bleibt.
Auch feministische Theorien des Wissens (etwa bei Lorraine Code oder Nancy Tuana) könnten Newcomes Werk als Beispiel eines frühfeministischen epistemischen Widerstands lesen — eine Frau, die in einem von männlicher philosophischer Orthodoxie dominierten Feld eine eigenständige Rationalitätsform entwickelte.*
Kritische Rezeption und Interpretationen
Leider ist über Newcome wenig Sekundärliteratur verbreitet, was abermals die strukturelle Marginalisierung weiblicher Philosoph:innen bezeugt. Dennoch bietet das Werk von Sarah Hutton über frühneuzeitliche Philosophinnen eine wesentliche Grundlage für die Relektüre Newcomes Werkes. Hutton betont, dass Newcome eine der wenigen Philosophinnen jener Zeit war, die eine genuine Schnittstelle zwischen Theologie und Philosophie markiert, ohne sich einem bloß apologetischen Duktus hinzugeben.*³*
Kritisch könnte man einwenden, dass Newcomes Übergang von moralischer Intuition zur Gültigkeit religiöser Aussagen epistemologisch schwach fundiert sei. Ihre Gegner, aus dem Lager Humes oder dem radikaleren Empirismus entstammend, würden leicht einwenden, dass der moralische Sinn selbst kulturell konstruiert und somit keine akzeptable Basis für transzendente Schlüsse sei.
Doch solche Kritik verkennt den historischen Ort ihres Denkens. Was bei Newcome auf dem Spiel stand, war nicht die Letztbegründung, sondern die Widerlegung der These, dass religiöser Glaube notwendig irrational sei. Ihre Rationalität ist kontingent, relational, und doch universalistisch.
Fazit: Der stille Widerhall einer überhörten Stimme
Susanna Newcome bleibt eine der faszinierendsten, wenn auch übersehensten Gestalten der frühen Neuzeit. Ihre Fähigkeit, zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen moralischem Urteilen und empirischer Beobachtung zu vermitteln, eröffnet einen erkenntnistheoretischen Horizont, der bis heute unerschöpflich ist. Ihr Beitrag zur Philosophie ist nicht bloß apologetisch oder weiblich-heroisch, sondern genuin erkenntnistheoretisch — ein Manifest der Möglichkeit, metaphysisch zu denken, ohne in spekulativen Dogmatismus zurückzufallen.
Möge ihr Werk dereinst jene Würdigung erfahren, die es verdient, als Teil unseres gemeinsamen philosophischen Erbes — nicht nur als Fußnote in der Geschichte weiblichen Denkens, sondern als Knotenpunkt einer noch immer offenen Debatte über die Rationalität des Göttlichen.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
epistemology, proto-feminism, religious rationalism, footnotes, metaphysics, 18th-century, historical context
Footnotes:
1. Newcome, Susanna. An Enquiry into the Evidence of the Christian Religion, 1728. Edition used: Oxford University Library, Special Collections.
2. Swinburne, Richard. Is There a God? Oxford University Press, 1996.
3. Hutton, Sarah. British Philosophy in the Seventeenth Century, Oxford University Press, 2015.