Transzendenz im Zeitalter der Technosphäre: Eine Kritik zu Carolin Emckes „Für den Zweifel“ (2023)
Carolin Emcke, deren schriftstellerisches Werk sich seit jeher durch eine eindringliche Verbindung von engagierter Zeitdiagnostik und philosophisch-reflexivem Tiefgang auszeichnet, hat mit ihrem 2023 erschienenen Buch „Für den Zweifel“ ein Essay vorgelegt, das sich gleichermaßen als Plädoyer für geistige Offenheit, intellektuelle Redlichkeit und die Verteidigung liberaler Diskursethik verstehen lässt. Inmitten eines gesellschaftlichen Klangraumes, der zunehmend von dogmatischen Selbstgewissheiten, moralischer Rigidität und diskursiver Verknappung durchzogen ist, erhebt Emcke die Stimme des Zweifels — nicht als Schwäche, sondern als Ausdruck einer radikalen intellektuellen Ethik, die im besten Sinne aufklärerisch ist.
Das Werk gliedert sich in lose verbundene, jedoch thematisch kohärente Abschnitte, in denen Emcke sich mit zentralen Gegenwartsphänomenen auseinandersetzt: Fake News, Verschwörungsnarrative, der moralisierende Überbietungswettbewerb im digitalen Raum, die Erosion des Vertrauens in wissenschaftliche Institutionen sowie die Frage, wie eine plurale Gesellschaft ihre fragile Dialogfähigkeit erhalten kann. Ihre Antwort liegt – im Titel angedeutet – in der Rückbesinnung auf die Tugend des Zweifels: jenes „uneindeutige, fragile, tastende Denken“, das jeder totalitären Logik entgegensteht und vielmehr als „produktive Unsicherheit“^1 verstanden wird.
Carolin Emckes Stilistik weist in „Für den Zweifel“ bemerkenswerte formale Eigenschaften auf. In einer Sprache, die zwischen essayistischer Leichtigkeit und philosophischer Dichte changiert, kombiniert sie persönliche Erfahrungen – etwa als Kriegsberichterstatterin – mit gesellschaftspolitischen Reflexionen. Diese Verbindung von Autobiographischem mit Allgemeingültigem verweist auf Emckes humanistische Grundhaltung, die in der Konkretion des Einzelfalls die Matrix des Allgemeinen erkennt. Sätze wie „Die Wahrheit beginnt im Zweifel“ sind emblematisch für ihren Stil: klar, pointiert, doch nie ins Plakative abgleitend. Dabei verzichtet sie weitgehend auf akademischen Jargon und führt ihre Leserinnen und Leser – ganz im Geiste der idealistischen Aufklärung – durch eine komplexe Gedankenwelt, ohne je epistemologische Arroganz walten zu lassen.
Die Rezeption des Buches in den deutschen Feuilletons und literarischen Zirkeln war überwiegend positiv, ja stellenweise geradezu hymnisch. Die FAZ lobte Emckes „moralische Klarheit ohne Dogmatismus“, während die ZEIT das Werk als „notwendiges Manifest einer zivilen Vernunft“ pries. Auch in Diskussionsrunden – insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – wurde Emckes Buch als Referenztext für die gegenwärtige Kulturkrise herangezogen. Gleichwohl blieb kritische Distanz nicht aus: Einige Stimmen warfen Emcke eine gewisse Redundanz ihrer Argumentation vor oder beanstandeten, dass der Text über weite Strecken die Konturen konkreter Lösungsvorschläge vermissen lasse. Diese Einwände jedoch treffen nicht das eigentliche Zentrum des Buches, das sich weniger als politisches Handbuch denn als Meditation über die ethischen Voraussetzungen gesamtgesellschaftlicher Kommunikation versteht.
Vergleicht man „Für den Zweifel“ mit thematisch verwandten Essays zeitgenössischer Autorinnen wie Eva von Redecker („Bleibefreiheit“, 2021) oder Jagoda Marinić („Hier liegt Deutschland“, 2022), so wird der besondere Ton Emckes deutlich: Während sowohl Redecker als auch Marinić eher auf analytische Dekonstruktion und kulturkritische Polemik setzen, kultiviert Emcke eine Haltung des tastenden Denkens, das dem Leser Raum zur Selbstreflexion lässt. Sie teilt mit Autoren wie Byung-Chul Han oder Hartmut Rosa die Skepsis gegenüber den techno-ökonomischen Beschleunigungsregimen, doch unterscheidet sich ihre Diagnose durch den beharrlichen Versuch, aus der Melancholie der Gegenwart eine Ethik der Affirmation zu destillieren.
Zweifel als ethischer Imperativ – dies bildet den archimedischen Punkt von Emckes Argumentation. Diese These vermag durch ihre zeitlose Relevanz zu überzeugen. In einer Epoche, in der algorithmische Absolutismen die diskursive Landschaft veröden lassen, erscheint Emckes Zweifel nicht als Schwäche, sondern als Akt des Widerstands – ein „Nicht-Wissen-Wollen“ gegenüber vereinfachenden Weltbildern. Dabei lässt sie sich nicht auf die destruktive Dekonstruktivität postmoderner Beliebigkeit ein, sondern sucht vielmehr nach einer Form des Denkens, die Ambiguitäten aushält, ja, produktiv transformiert. Eine Haltung, die in ihrem moralphilosophischen Kern an Montaignes Skeptizismus erinnert und doch durchzogen ist von einem leisen Hegelianismus: Der Glaube an den vernunftbegabten Diskurs als geschichtlich wirksame Instanz.
Dennoch bleiben auch Aspekte, in denen das Buch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Emckes Schreibweise, so elegant sie oftmals ist, kreist mitunter in redundanten Argumentationsfiguren. Ihre Rhetorik des Zweifels reproduziert sich gelegentlich selbstreferenziell, sodass gewisse Begriffe – „Ambiguität“, „Dialog“, „Verantwortung“ – zu leerlaufenden Signifikanten verkommen. Zudem könnte man argumentieren, dass der durchgängig essayistische Duktus zwar zugänglich, aber nicht immer stringent ist; was dem Buch an systematischer Dichte fehlt, gleicht es durch moralische Brillanz aus. Trotzdem wäre es ein Fehlschluss, diese formalen Schwächen mit inhaltlicher Nebulosität gleichzusetzen. Emckes Beitrag besteht ja gerade in der Ablehnung geschlossener Systeme zugunsten einer Ethik der Offenheit.
Nichtsdestoweniger zeigt sich besonders im Schlusskapitel eine stilistische Bruchstelle. Dort, wo Emcke versucht, aus dem Plädoyer für den Zweifel einen quasi-normativen Zukunftsentwurf zu extrapolieren, kippt die vorher so souverän ausbalancierte Reflexion mitunter in appellative Rhetorik. Hier offenbart sich ein konzeptueller Zwiespalt: Der Zweifel als Haltung vermag gesellschaftliche Konflikte zu entdramatisieren, jedoch nicht unbedingt zu lösen. Eine konkrete Politik des Zweifels bleibt Emcke schuldig – und vielleicht will sie das sogar bewusst. Gleichwohl hätte ein systematischerer Rekurs etwa auf Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns oder auf Paul Ricœurs Hermeneutik der Verantwortung eine fruchtbare Konkretisierung geboten^2.
Insgesamt aber ist „Für den Zweifel“ ein bedeutendes Buch, dessen ethos getragene Zeitdiagnostik und moralische Integrität einen seltenen Tiefenklang erzeugen. Dass Emcke sich nicht der Versuchung hingibt, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu liefern, sondern den Mut zeigt, Ungewissheiten auszuhalten und sprachlich fruchtbar zu machen, markiert den besonderen Rang dieses Essays. In einer Ära, in der Worte oft ihres Gewichts beraubt erscheinen, gelingt es Emcke, Sprache wieder zu einem Ort der Freiheit – und damit des Denkens – zu machen^3.
In der literarischen Landschaft des Jahres 2023 – dominiert von autofiktionalen Selbstbespiegelungen, identitätspolitischen Bekenntnisschriften und dystopischen Zukunftsentwürfen – erscheint „Für den Zweifel“ als wohltuende Anomalie. Kein lärmendes Manifest, keine polemische Abrechnung, sondern ein kluges, zugleich tastendes und konsequentes Nachdenken über die fragile Seinsweise einer pluralen Gesellschaft. Ob das Werk denselben langfristigen Einfluss ausüben wird wie beispielsweise Emckes „Gegen den Hass“ (2016), bleibt abzuwarten. Sein kulturelles und philosophisches Potenzial jedoch steht außer Zweifel.
Denn was ist das Gegenteil des Zweifels? Nicht die Wahrheit – sondern die Gewissheit. Und ist es nicht gerade die Gewissheit, die in der Geschichte des Abendlandes die monströsesten Irrtümer gebar? Mag der Zweifel unbequem sein, ja unattraktiv im Lärm der Welt – so bleibt er doch das leise Flackern jener Vernunft, deren Licht allein uns Orientierung zu geben vermag in der Dunkelheit unserer Zeit.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, modernity, ethics
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^1 Emcke, Carolin. Für den Zweifel. Fischer Verlag, 2023, S. 44.
^2 Vgl. Habermas, Jürgen. Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp, 1981; sowie Ricœur, Paul. Das Selbst als ein Anderer. München: Wilhelm Fink Verlag, 1996.
^3 Ebd., S. 88: „In der Sprache liegt die Würde des Denkens – und der Zweifel ist ihr Grammatik.“