Benders – Niederländischer Schriftsteller, Dichter & Philosoph

Die deutschen literarischen Werke

Menu
  • Startseite
  • Biografie
  • Kritische Rezeption
    • Kritische Rezeption
    • Mykologische Poesie als Welterschaffung – Martijn Benders’ “O Kolle Klokkespin”
  • Deutsche Bücher
  • Mein Kanon
  • Kontakt
  • Hauptseite
Menu

Vereinsamtes Licht: Eine kritische Betrachtung von Philipp Weiss’ „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“

Posted on Juli 4, 2025 by admin

Vereinsamtes Licht: Eine kritische Betrachtung von Philipp Weiss’ „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“

Philipp Weiss, ein aus Wien stammender Autor, verrichtet mit seinem 2023 erschienenen Werk „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ eine literarische Operation, die sich wenig um die Einhaltung kanonischer Formen bemüht und stattdessen den Mut besitzt, das Menschliche im Anthropozän in Frage zu stellen. Das Buch erscheint als monumentaler Roman—nicht allein ob seines Umfangs von über 1.000 Seiten, sondern auch aufgrund der ontologischen Zugriffslust, mit der Weiss seine fünf ineinander verschränkten Erzählstränge entwirft. Was der Leser hier erlebt, ist nicht eine simple Narration, vielmehr ein mehrstimmiges Echo der Zersetzung des Subjekts am Abgrund des postkapitalistischen Zeitalters. Es sind hybride Identitäten, zerbrochene Weltbilder und technoide Dystopien, mit denen sich Weiss’ literarisches Experiment manifestiert.

Weiss’ Roman ist in fünf Bücher gegliedert, die formal wie inhaltlich voneinander divergieren und jeweils als Monologe oder innere Erzählungen unterschiedlicher Figuren auftreten. Da ist etwa die junge Französisch-Lehrerin, die von ihrer Begegnung mit einem Immigrantenkind berichtet; ein japanischer Forscher, der Kybernetik betreibt und zunehmend paranoide Züge entwickelt; ein österreichischer Philosoph, dessen Sprachspielereien an die Hermetik Wittgensteins rühren; ein Ich-Erzähler, der sich in einem düsteren digitalen Archiv verirrt, das an Jorge Luis Borges’ Bibliothek von Babel gemahnt. Schließlich findet sich noch ein Abschnitt in Form eines Theaterstücks, das die schizoide Vervielfältigung der Wirklichkeiten kulminiert. Die Parallelen zur dekonstruktivistischen Literatur sind unübersehbar: Weiss verlässt in seinem Werk mit Absicht die lineare Logik narrativer Progression und schafft ein polyphones Kompendium der Auflösung.

Stilistisch bewegt sich Weiss mit erschreckender Eleganz durch ein Dickicht aus Sprachspielen, soziologischen Einsprengseln, literarischen Referenzen und poetischer Fragmentierung. Sein Duktus changiert zwischen kalter Rationalität und delirierendem Wahnsinn, als wolle er sowohl Hegel als auch Artaud Genüge tun. In einem Absatz begegnet uns eine Betrachtung über maschinelle Bewusstwerdung, im nächsten eine pastorale Szene, die unversehens in ein dystopisches Monologfragment übergeht. Die Formen und Textsorten lösen sich in einem stilistischen Kaleidoskop auf; die klare Handschrift des Autors bleibt dennoch durchweg erkennbar—ein Kunstgriff, den man nicht häufig findet.

Obwohl man Weiss’ Werk wohl kaum im klassischen Sinne als „Roman“ fassen kann, bleibt doch jener epische Impuls spürbar, der bereits die Werke Musils, Brochs und Canettis durchdrang. Die Idee eines Totalromans, der gleichzeitig Philosophie, Anthropologie, Dichtung und Kritik sein will, setzt sich hier fort, jedoch unter den Bedingungen der Postmoderne, wenn nicht gar der Posthumanität. Diese Mehrschichtigkeit ist sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche des Buches: Die permanente Selbstreferenzialität, das epische Volumen und die oft schwer fassbare Essayistik verlangen dem Leser eine geduldige Kontemplation ab—eine Hingabe, die im Zeitalter digitaler Zerstreuung selbst zum Akt metaphysischen Widerstands wird.

Die Rezeption des Werks fiel entsprechend vielschichtig aus. Während Blätter wie „Die Zeit“ und „Süddeutsche Zeitung“ das Werk als visionär und intellektuell fordernd bejubelten, wurde ihm in konservativen Formaten eine gewisse hermetische Selbstbezogenheit vorgeworfen¹. Besonders innerhalb des germanistischen Diskurses kam es zu Diskussionen darüber, ob Weiss’ Werk am Anspruch eines großen europäischen Romans scheitere oder ob es eben jener Fragmentarisierung der Welt in Textform gerecht werde, die unsere Epoche prägt. Die Theaterfassung des Romans, 2024 in Berlin uraufgeführt, wurde sogar als „literarisches Ereignis der Dekade“ gefeiert—eine Einschätzung, die den performativen Charakter des Textes unterstreicht².

Vergleicht man Weiss’ Roman mit ähnlichen Literaturprojekten der letzten Jahre, so drängen sich Norbert Gstreins „Der zweite Jakob“ oder Rainald Goetz’ „Johann Holtrop“ auf, doch diese erscheinen im Licht von Weiss’ Tiefe und formaler Kühnheit fast wie Aperçus. Sogar Elfriede Jelineks berühmte tessellierte Monologe bleiben—so kraftvoll sie sein mögen—formal enger geschnürt als Weiss’ polyedrisches Gebilde. Seine Nähe zur französischen Theorie (vor allem Foucault, Deleuze und Lyotard) ist unüberhörbar, gleichzeitig aber durchzogen von einem tiefen metaphysischen Pessimismus, der eher an Kierkegaards Ästhetik der Verzweiflung als an kontinentale Fröhlichkeit erinnert³.

Doch es wäre verfehlt, Weiss’ Werk allein auf seine literarische Virtuosität zu reduzieren. Seine zentralen Themen—die Auflösung des Subjekts, die Überdetermination durch Technologie, ökologische Apokalyptik, Migration, Erinnerung und Sprachversagen—berühren auf existenzieller Ebene. Insofern entwirft Weiss kein bloßes literarisches Spiel, sondern vielmehr ein anthropologisches Fresko, das den Menschen inmitten der Risse seiner Kulturen, Technologien und Vergangenheiten ausstellt. „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ ist wie ein Katalog jener Schmerzen, die das post-utopische Bewusstsein plagen, ein Werk, das das Hoffnungslose nicht überwindet, sondern in seiner Totalität ausbreitet.

Gleichwohl bleibt der Roman nicht frei von Kritik. Die Fülle an Stimmen und Ebenen kann überfordern und wirkt streckenweise redundant. Besonders der vierte und fünfte Teil des Buches verlieren gegenüber der Eingangsintensität an rhythmischer Kraft. Auch die Tendenz zur Übertheoretisierung—so ambitioniert sie im Gestus sein mag—führt zu gelegentlichen Lähmungen der Narration. In manchen Passagen erschließt sich dem Leser das Dargestellte erst nach mehrfacher Lektüre, wobei sich die Frage stellt, ob dieser intellektuelle Elitismus literarisch legitimiert ist. Die Grenze zwischen Tiefe und Kryptik wird hier mitunter überschritten⁴.

Trotzdem überwiegt das Lob. Selten hat ein deutschsprachiger Autor mit derartiger Vehemenz ein Werk vorgelegt, das derart radikal mit den narrativen Mitteln der Literatur umspringt und dabei dennoch zutiefst menschlich bleibt. Der Humor, der im Titel versprochen wird, findet sich tatsächlich: nicht in Form von Heiterkeit, wohl aber in sardonischem Gelächter am Abgrund. Weiss gelingt das fast Unmögliche: Er verfasst ein lichthaftes Dunkelbuch, dessen wolkenverhangene Reflexionen dennoch Hoffnung stiften—in der Erkenntnis, dass unser Lachen am Rand der Welt auch eine Form der Metaphysik ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Mit „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ hat Philipp Weiss ein Wagnis unternommen, das an die zu rühmenden, selten aber eingelösten Versprechen der Literatur als Gesamtform erinnert. Es ist ein Werk, dessen Lektüre nicht nur fordert, sondern transzendiert—ein literarisches Ereignis, das, so ist zu hoffen, auch außerhalb akademischer Zirkel seinen Widerhall finden wird. Sollte ein epochales literarisches Vermächtnis unserer Zeit entstehen, dann wird Weiss’ Werk darin eine zentrale Rolle spielen.

By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium

language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, total literature, posthumanism

—

¹ Vgl. Höller, Michael: „Das literarische Bastardkind des Daseinsgefühls“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, März 2023.
² Siehe Theaterkritik in „Theater heute“, Ausgabe Juli 2024, S. 89–94.
³ Vgl. M. Czernin (Hrsg.): „Weltende zwischen Wort und Wirklichkeit. Zur Apokalypse in der Gegenwartsliteratur“, Wien, 2022, S. 113 ff.
⁴ Vgl. Leisinger, Ruth: „Dekonstruktion bis zur Selbstaufgabe?“, in: Neue Rundschau, Heft 2/2023, S. 41–50.

Category: Deutsche Literatur

Schreibe einen Kommentar Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Deutsche Bücher

„Eine Mottenoper auf Deutsch, basierend auf meinem Gedichtband Baah Baaah Krakschaap / Das F der Winterschlaf.“


In diesem Band zeige ich mich von meiner experimentellsten Seite – die Texte bewegen sich zwischen Lautpoesie, absurdem Theater und schlafwandlerischer Symbolik. Die Mottenoper baut darauf auf: ein musikalisch-dichterisches Gewebe aus Flügelschlägen, Traumprotokollen und klanggewordenen Metamorphosen.

Sie ist keine Oper im traditionellen Sinne, sondern ein Zeremoniell des Verpuppens und Entpuppens – das F steht hier nicht nur für „Fabel“ oder „Finsternis“, sondern auch für „Flackern“, „Fantasie“ und „Flucht“.

Gemeinsam mit meinen Kompliz:innen erforsche ich in diesem Werk die Grenzen zwischen Sprache, Klang und Verwandlung – ein Projekt, das sich der linearen Logik entzieht und stattdessen der Logik des Lichts folgt, wie es von Motten geträumt wird.

Ich habe außerdem eine Neue-Welle-/New-Wave-Formation, die Lieder mit deutschen Texten macht: The Stoss. The Stoss besteht aus Martijn Benders, Veronique Hogervorst und Dieter Adam. Unser Debütalbum heißt Höllenhelle Eisenbahn und ist in voller Länge auf Spotify zu hören.

Dieter hat (zusammen mit Martijn Benders) auch ein Soloalbum gemacht, um zu zeigen, dass großartige Poesie und deutsche Musik Hand in Hand gehen können.
Das poetische Glanzstück „Oh Schwulfürst von Schlüpferland“ sorgt derzeit für Furore in der internationalen Musikwelt.

Neueste Beiträge

  • Im Schatten des Anthropozäns: Eine Kritik zu Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“
  • Zwischen Erinnerung und Entwirklichung: Eine kritische Betrachtung von Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“
  • Die Zerbrechlichkeit des Realen: Eine kritische Betrachtung von Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“
  • Transzendenz im Zeitalter der Technosphäre: Eine Kritik zu Carolin Emckes „Für den Zweifel“ (2023)
  • Vereinsamtes Licht: Eine kritische Betrachtung von Philipp Weiss’ „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“
  • Die Dissolution des Selbst: Eine kritische Betrachtung zu Monika Helfers „Die Bagage“
  • Die Suche nach einer neuen Aufklärung: Eine kritische Betrachtung von Jürgen Habermas’ „Auch eine Geschichte der Philosophie“
  • Die metaphysische Zerbrechlichkeit der Zeit: Eine Kritik zu Juli Zehs „Zwischen Welten“
  • Die dialektische Schattenkammer: Eine Analyse von Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter”
  • Die synthetische Seele: Eine Kritik von Terézia Moras „Muna oder Die Hälfte des Lebens“

Neueste Kommentare

    Archive

    • Juli 2025
    • Juni 2025
    • Mai 2025
    • April 2025
    • März 2025
    • März 2024
    © 2025 Benders – Niederländischer Schriftsteller, Dichter & Philosoph | Powered by Minimalist Blog WordPress Theme