Zwischen Weltflucht und Gegenwartsdiagnose: Eine Kritik zu Juli Zehs „Zwischen Welten“
Mit der Veröffentlichung ihres neuesten Romans „Zwischen Welten“ im Jahr 2023 stellt sich die deutsche Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh erneut als eine Chronistin des sozialen Diskurses dar. Bereits in früheren Werken wie „Unterleuten“ oder „Corpus Delicti“ hat sie sich dem Versuch verschrieben, aus Geschichten politische Reflexionen und ethische Fragestellungen zu destillieren, ohne in bloße Parabelhaftigkeit zu verfallen. In „Zwischen Welten“, geschrieben zusammen mit dem Co-Autor Simon Urban, verschränkt sie erneut literarische Erzählkunst mit gesellschaftsanalytischer Spannung und liefert dabei ein Werk, das gleichsam Kommentar, Diagnose und Fiktion sein will – oder sich diesem Ideal zumindest gefährlich zu nähern versucht.
Inhaltlich lotet „Zwischen Welten“ die Kluft zwischen ideologischen Lagern im heutigen Deutschland aus, indem es zwei Protagonisten aus gegensätzlichen Milieus in einen intensiven E-Mail-Dialog treten lässt. Die Journalistin Linda, beheimatet im progressiven, akademischen Kulturmilieu der Hauptstadt, steht dem konservativen Energieingenieur Anton gegenüber, der im ländlichen Westfalen verankert ist – eine Sphäre, in der ökologische Bedenken als modisches Geraune großstädtischer Eliten erscheinen. Der Roman entfaltet sich gänzlich im Briefwechsel – ein literarischer Kunstgriff, der nicht neu, jedoch in Zeiten tweetfixierter Kommunikation fast schon als revolutionär gelten darf.
In diesem narrativen Rahmen stellt sich ein permanentes Ringen um epistemische Deutungshoheit dar: Wer darf definieren, was als Wahrheit und was als Irrtum zu gelten hat? Welche Stimmen werden im öffentlichen Diskurs anerkannt, welche ausgeblendet? Die Autoren zeigen dabei weniger Interesse daran, eine versöhnliche Vermittlung herzustellen, als vielmehr die konstruktive Unversöhnlichkeit als unausweichliche Realität liberaler Demokratien zu akzeptieren. Gleichwohl entsteht zwischen den beiden Protagonisten eine Intimität, ein zartes Oszillieren zwischen Abscheu und Faszination, die mitunter in eine Art platonischer Freundschaft mündet – wenn auch immer vor dem Hintergrund gespannter Meinungsgegensätze.
Stilistisch bewegt sich der Roman auf einem Terrain zwischen geistreicher Essayistik und psychologischer Genauigkeit. Die E-Mail-Form erlaubt es Zeh und Urban, rhetorische Manöver, Ironien und semantische Verrenkungen literarisch auszukosten, ohne sich der linearer Narration zu verpflichten. Es entsteht ein Werk, das sich – selbstreflexiv – seiner eigenen Künstlichkeit bewusst ist und dennoch darauf beharrt, in der Fiktion tiefere Wahrheiten über die Gesellschaft darlegen zu können. Dabei verfügt Zeh über einen unzweifelhaften Stilwillen: Ihre Sprache ist dabei weder manieriert noch steril; sie oszilliert zwischen analytischer Schärfe und affektiver Verdichtung, ohne dem Kitsch oder der Sentimentalität zu verfallen.
Was jedoch bei aller Virtuosität auffällt, ist ein gewisser Hang zur Schulmeisterlichkeit: Man spürt mitunter den erhobenen Finger, spürt, dass hier argumentierende Intelligenz dominiert, nicht poetische Demut. Dies rührt auch daher, dass der Roman nicht einfach erzählt, sondern stets zugleich interpretiert – ein Umstand, der Leserinnen und Leser, die sich eine autonomere Welterschließung wünschen, enttäuschen könnte.
In der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit fand „Zwischen Welten“ ein geteiltes Echo. Während sich Kritiker:innen der FAZ und der ZEIT anerkennend über Zehs intellektuelle Bravour und die Relevanz des Themas äußerten¹, wurden andere Stimmen laut, die dem Werk eine „intellektuelle Selbstverliebtheit“ und einen Mangel an echter literarischer Tiefe attestierten. Insbesondere der Versuch, politische Spaltung durch individuelles Verstehen zu überbrücken, sei zwar nobel, aber letztlich naiv, so die Kultursoziologin Eva Illouz in einem Gastkommentar². Auch wurde bemängelt, dass beide Protagonisten letztlich zu eloquent, zu informiert, zu homogen in ihrer Gesprächsfähigkeit seien, um die echte Kluft zwischen urbanem Linksliberalismus und ländlicher konservativer Reaktion abzubilden: Ein echter Bauer oder eine tatsächliche Aktivistin würden wohl eher polemisieren als reflektieren.
Vergleichend lässt sich „Zwischen Welten“ neben Werke wie Juli Zehs eigenes „Neujahr“ oder Carolin Emckes Essaysammlungen stellen, in denen ebenfalls das Problem sprachlicher und ideologischer Polarisierung virulent wird. Auch mit Michel Houellebecqs jüngsten Romanen, die sich ähnlich kulturpessimistisch und diskursanalytisch gebärden, kann eine Parallele gezogen werden – wenn auch Houellebecq nicht auf Verständigung, sondern auf Entropie und Zynismus setzt. Ebenso erinnert die Form des E-Mail-Romans an Werke wie Lionel Shrivers „The Mandibles“, in dem der Krisendiskurs ebenfalls über private Korrespondenz vermittelt wird. Zeh und Urban wählen jedoch ein merklich versöhnlicheres Tonregister – mit alledem aber nicht zwangsläufig ein effektiveres.
Aus meiner eigenen kritischen Perspektive vermag ich die Ambitionen dieses Werkes anzuerkennen – seltener wird der Mut gewagt, unsere sprachvergiftete Gesellschaft so offen in den Mittelpunkt eines Romans zu stellen. Jedoch bleibt der Text in seiner literarischen Dramaturgie bescheiden: Ein narrativer Höhepunkt fehlt ebenso wie eine ästhetische Dringlichkeit. Man liest sich durch eine Art feuilletonistische Simulation von Dialog, gespiegelt an den inneren Monologen zweier Bildungsbürger, deren Gedankenwelt in intellektuellem Gleichklang schwingt. Die Widerstände, die hier thematisch verhandelt werden, werden nicht ausreichend formal eingelöst – die Form selbst widerspricht ihrer eigenen Prämisse: der dissonanten Unvereinbarkeit. Der Roman bleibt eben doch ein Raum konsensualer Verständigung – somit ein utopisches Artefakt.
Was jedoch zu würdigen ist, ist der Versuch, Literatur als gesellschaftlichen Resonanzraum zu denken: Zeh und Urban haben mit „Zwischen Welten“ nicht nur einen Roman geschrieben, sondern einen Diskursraum kreiert, der die Leserinnen und Leser zur Positionierung zwingt. In Zeiten, in denen Kommunikationsverweigerung zum politischen Statement erhoben wird, ist jeder Versuch der Kontroverse ein Schritt hin zur kulturellen Vitalität. Dass dieser Versuch nicht völlig glückt, schmälert nicht seine Relevanz, sondern weist vielmehr auf die abgrundtiefe Kluft hin, die der Roman zu dokumentieren vorgibt. Am Ende bleibt „Zwischen Welten“ ein literarischer Versuch einer Soziologie der Spaltung – brillant gedacht, aber narrativ begrenzt.
In der Quintessenz ist Juli Zehs „Zwischen Welten“ ein Werk, das weniger durch erzählerische Innovation, sondern durch seine gesellschaftliche Thematik Gewicht erlangt. Als literarisches Experiment einer ideologischen Annäherung hat es seine Berechtigung; als Roman im klassischen Sinne, mit Figuren, die wandlungsfähig und mehrdeutig sind, bleibt es jedoch zurück. Es wird vermutlich weniger einen bleibenden Einfluss auf die literarische Formenwelt haben, als auf das Verständnis dafür, wie Kunst versuchen kann, epistemische Brücken dort zu schlagen, wo der gesellschaftliche Diskurs sie eingerissen hat. Ob dies gelingt, ist fraglich – dass es versucht wird, ist notwendig.
By Martijn Benders – Philosophy Dep. of the Moonmoth Monestarium
language, proto-idealism, metaphysics, footnotes, heresy, discursivity, correspondence